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Reise ohne Ziel

Giti Thadani war Ende der 80er Jahre Mitbegründerin der Lesbengruppe „Sakhi“ und des ersten Lesbenarchivs in ihrer Heimatstadt Neu Delhi. Mit einem Jeep fuhr sie mehr als zehntausend Kilometer über den gesamten Subkontinent – auf der Suche nach Zeugnissen der Frauenliebe. Über Lesbenforschung, die Kama Sutra und die Probleme lesbischer Migrantinnen sprach mit ihr Lizzie Pricken

Wie lebt eine offene Lesbe heute in Indien?

Es ist immer noch sehr schwierig, wir haben ja noch die alten britischen Gesetze und leben in einer Zeit zunehmender Fundamentalisierung. Vor allem in den Medien wird wieder ein sehr traditionelles Frauenbild vermittelt. Auf der anderen Seite gibt es mehr Frauen als je zuvor, die sich finanziell unabhängig von Männern machen und alleine oder zusammen leben. Doch in der Öffentlichkeit hat sich nicht viel geändert. Selbst so ein Film wie „Fire“, der vor einigen Jahren die Massen bewegt hat und zu monatelangen Diskussionen führte, konnte natürlich ohne ein „follow-up“ auf die Dauer keine übergreifende Wirkung zeigen. Gut daran war in jedem Fall, daß zum ersten Mal dieses Thema auch in die Provinz getragen wurde und vor allem, daß es ein eindeutiges Filmplakat gab, das sich so wohltuend von den üblichen Bollywoodproduktionen abhob. Das hängt übrigens heute noch in den Teestuben vieler Dörfer und Kleinstädte. Da es jedoch keine Lesbenbewegung in Indien gibt, konnte auch von dieser Seite das Thema nicht aufgegriffen werden.

Darstellungen von Frauenliebe haben in Indien eine alte Tradition, die du auch in deinem ersten Buch beschreibst ...

Nun, dazwischen liegen knapp tausend Jahre. Viele dieser Skulpturen wurden in der Zwischenzeit entweder zerstört, übermalt, einzementiert oder beseitigt. Lediglich in der Miniaturmalerei finden sich noch Beispiele von Erotik zwischen Frauen. Ansonsten ist diese Tradition versteckt worden. Auch mein erstes Buch wurde nie in Indien veröffentlicht und es ist bis heute sehr schwer, es dort überhaupt zu finden. Von Vorträgen oder gar einer Lesereise ganz zu schweigen. In Indien ist meine Arbeit bis jetzt fast völlig ignoriert worden. Weder die Linken noch die Heterofeministinnen haben daran ein Interesse, und der Neo-Hinduismus ist sowieso extrem regressiv. Noch vor zehn, fünfzehn Jahren war es leichter, Dokumente und Darstellungen zu finden. Als die konservativen Hindus auch die alten Orte übernommen haben, wurden sie bald darauf „bereinigt“. Deshalb existieren viele der Sachen, die ich noch dokumentieren konnte, heute gar nicht mehr.

Ein Grund mehr, die Geschichte als Basis für ein lesbisches Selbstbewußtsein heranzuziehen!

Aber es gibt praktisch keinen positiven Umgang damit! Schon der schwule französische Schriftsteller Alain Danelieux kritisierte einst die Haltung Gandhis, den er im übrigen persönlich kannte, im Umgang mit diesem kulturellen Erbe. Gandhi war einer der ersten, die sich dieser unliebsamen Seite unserer Vergangenheit entledigen wollten. Danelieux hat lange in Indien gelebt und auch die Kama Sutra übersetzt – inklusive der bis dato nicht übersetzten Kapitel über schwulen Sex. Die Kama Sutra hat zwar auch rein weibliche Sexualität erwähnt, aber ein bißchen verpönt, weil es nun mal kein progressiver Text ist und außerdem von Männern verfaßt wurde. Sie ist ja auch mehr ein Handbuch von Sexualpraktiken. Es geht nicht vordergründig um die energetischen Kräfte von Sexualität. In diesem Sinne werden allerdings selbst innerhalb der Kama Sutra die Frauen als diejenigen mit der stärksten Sexualität angesehen – aufgrund der doppelt potenzierten Weiblichkeit. Denn beim Heterosex, wie auch zwischen Männern, gibt es sowohl weibliche, als auch männliche Elemente. Der Mund wird beispielsweise bei allen Menschen als weiblich angesehen. Also wäre dann oraler Sex zwischen Frauen ein Ausdruck von ausschließlich weiblicher Energie, weil nicht einmal auf der symbolischen Ebene männliche Energie mit einfließt. Deshalb hat es innerhalb der Frauentradition, die sehr stark war, natürlich eigene Texte dazu gegeben.
Es ist indes sehr mühsam, diese Texte heute zu finden. Ich selbst habe lange Zeit in Bibliotheken und Archiven geforscht, um wenigstens einen Teil davon für das Lesbenarchiv zu sammeln. Einige Übersetzungen davon sind auch in meinem ersten Buch erschienen.

Von wem gibt es denn überhaupt in Indien öffentliche Unterstützung für Lesben?

Einzig und allein von einigen progressiven Schwulen, wie beispielsweise dem auch international bekannt gewordenen Aktivisten Ashok Kawí. Es gibt leider unter den Lesben und Schwulen nicht wenige, die lieber im privaten Bereich bleiben möchten. Sie behaupten, daß die Homos in Indien nicht den Westen imitieren sollten und wir deshalb auch keine politische Bewegung bräuchten. Deshalb werden auch diejenigen von uns, die dann in die Öffentlichkeit gehen, von einigen Seiten regelrecht angefeindet. Vor allem innerhalb der Schulenszene in Indien geht es oft um Machtspiele, sie haben ja auch viel mehr Geld und ein recht bequemes Nischendasein. Da haben sie natürlich auch einiges zu verlieren, wenn sie sich mit dem Establishment anlegen. Sie gehen in der Regel weniger Risiken ein als die Lesben, aber dann haben sie doch ihre Kontakte ins Ausland und veröffentlichen bestimmte Sachen unter Umständen dort.
Es ist aber alles andere als einfach, in Indien politisch aktiv zu sein, zumal es keine lesbischen Räume mehr gibt. Ich selbst habe mich zurückgezogen, nachdem eine ehemals befreundete Lesbe aus der Gruppe mir die Wohnung ausgeräumt hat. Sie hatte den Schlüssel, da sich das Archiv bei mir befand, und hat später mit anderen Frauen eine eigene Gruppe aufgebaut, auch mit dem mir gestohlenen Material. Da wußte ich, daß es keine Basis für eine Zusammenarbeit mehr geben kann. Sie haben zwar mittlerweile eine Telefonberatung für Lesben organisiert, von der ich aber nicht weiß, ob und wie sie funktioniert.

Das ist wohl einer der Gründe, warum du selbst schon viele Jahre immer wieder im Ausland lebst, seit Mitte der 90er auch in Berlin. Wie hast du die Entwicklung der Lesbenbewegung in den letzten Jahre hier erlebt?

Es hat sich viel verändert, da der politische Ansatz verdrängt wurde, was sicher normal ist, da jede Generation ihren eigenen Weg finden muß. Auf der anderen Seite ist es auch hier viel schwieriger geworden, vor allem für Leute wie mich. Früher gab es mehr Interesse, auch an Lesben aus anderen Kulturen, ich habe regelmäßig Vorträge gehalten. Heute bekomme ich viel weniger Einladungen, aber es gibt allgemein weniger Ansätze für eine alternative Kultur. Die allgemeine Konsumorientierung hat die Vielfalt sowohl an kulturellen als auch politischen Alternativen quasi zunichte gemacht.

Trotzdem sind Lesben und auch Schwule heute viel selbstverständlicher in der Öffentlichkeit präsent. Es freut mich sehr, wenn ich zwei Frauen in der U-Bahn sehe, die sich vor allen Leuten umarmen und küssen.

Bedauerlicherweise gehen heute auch die Leute, die forschen, eher in den etablierten, den universitären Bereich und machen dann oftmals „Genderstudies“. Was ich früher in Deutschland schätzte, war, daß es einen politischen und kulturellen Bereich außerhalb dieser Institutionen gab. Die Werte dieser staatlichen Einrichtungen werden nämlich ausschließlich von der westlichen Welt bestimmt und sind von einer rein akademischen Orientierung geprägt. Ein Beispiel: bereits Ende der 90er Jahre habe ich einmal ein Symposium mit Frau Thürmer-Rohr erlebt und mit ihr über gewisse Sachen reden wollen, die aus dem Sanskrit übersetzt worden waren. Als ich eine Frage dazu stellte, senkte sie den Kopf und schwieg, denn sie hatte keine Antwort darauf. Dennoch es diese Versuche gegeben hat, sich für andere Weltbilder und Erfahrungen zu öffnen, sind viele Wissenschaftlerinnen heute einfach froh, etabliert zu sein. Aber ihre Theorien kommen alle aus der westlichen Welt. Forscherinnen wie ich werden von ihnen einfach ignoriert.

Worum geht es in deinem zweiten, im Frühjahr 2003 erschienenen Buch?

Mein Erstlingswerk war vordergründig wissenschaftlich orientiert, während dieses Buch mehr literarischen Charakter hat. Ich habe versucht, mich darin von der alten didaktischen Schreibweise zu befreien. Thematisch geht es um eine Reise durch Indien, da ich seit zwanzig Jahren in diesem Kontinent unterwegs bin. Meine bislang längste Reise unternahm ich vor einigen Jahren mit einem Jeep, der mich quer durch die indische Provinz trug. Als ich losfuhr, wußte ich noch gar nicht, wohin mich die Reise bringen würde. Ich wollte einfach das Land kennenlernen, da ich irgendwann das Gefühl hatte, sogar Europa besser zu kennen als Indien.

Als ich dann auf diese alten Tempelstätten stieß, war es beinahe so, als würde ich in ein großes Geheimnis eingeweiht. Und so fuhr ich weiter und weiter. Das Buch ist quasi eine philosophisch-literarische Bearbeitung dieser Reise. Das betrifft neben der äußeren auch die innere Reise, die Zeitreise, die Reise in die Mythologie und die Literatur. Ich wollte damit nicht zuletzt eine neue Kartographie des Landes selbst entwickeln. Deshalb war es auch keine zielorientierte Reise. Es gibt da eine gewisse Affinität zu Marcel Proust und zu Thomas Mann, vor allem was die Vorstellung von Zeit und Raum angeht. Ich setzte mich dabei sehr bewußt mit Sprache und Literatur auseinander, auf einer minimalistischen Ebene.

Das Buch ist übrigens momentan ausschließlich in Indien erhältlich, aufgrund von rechtlichen Bestimmungen. Daher weiß ich noch nicht, ob es zu einer Verbreitung im Ausland kommen wird. Hätte ich es narrativ geschrieben, würde sich diese Frage wohl erübrigen. Abgesehen davon, daß man es auf dem Weltmarkt als indische Autorin sehr schwer hat, wie alle Kulturschaffenden, die nicht aus der westlichen Welt stammen, wenngleich mittlerweile ein indischer Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur erhalten hat.

In Berlin hast du im vorigen Sommer einen Vortrag über die „Verschleierung des Weiblichen im Islam“ gehalten. Worum ging es da?

Ich wollte an diesem Beispiel vor allem auf die Problematik des Monotheismus hinweisen. Ich stütze mich in meiner Argumentation teilweise auf die aktuelle Politik und auf meine historischen Forschungsergebnisse. Mein Ausgangspunkt war dabei die Vorgeschichte des Islams. Es gibt darin unterschiedliche kosmologische Begriffe, die nicht monotheistisch sind. Da der Islam ja bekanntlich aus dem Juden- und Christentum hervorgegangen ist, übernimmt er leider auch deren Homophobie. Jedoch wird diese Ablehnung bis jetzt innerhalb der islamisch regierten Länder vielleicht noch am weitesten getragen und auch härter bestraft als in den anderen beiden Religionen, wie man beispielsweise im Iran sieht. Selbst in westlichen Ländern gibt es immer wieder Konflikte in der Richtung mit bestimmten Vertretern des Islams, wie vor einiger Zeit in Holland, wo eine ehemals schwule Einrichtung in eine Moschee umgewandelt wurde, von der aus jetzt öffentlich die Todesstrafe für Homosexuelle gefordert wird.

Mir ging es in dem Vortrag aber auch darum, daß jede monotheistische Glaubensrichtung vor allem die Weiblichkeit verleugnet, ob sie nun verschleiert wird oder nicht. Übrigens hat schon Mohammed zur Zeit des Ramazan 360 sogenannte Idole, also Statuen von zumeist weiblichen Gottheiten, zerstören lassen. Dies geschah noch in Kaba, einer Stadt, in der die Göttin Allath verehrt und angebetet wurde. Zu der Zeit gab es auch noch Priesterinnen, die nackt um einen heiligen schwarzen Stein tanzten. Das bedeutet, daß schon in der Anfangsphase der Islamisierung das weibliche Element, die weibliche Kraft zurückgedrängt wurde. Frauen dürfen nicht in die Moschee und werden völlig von der Öffentlichkeit ausgegrenzt, was nichts anderes als eine Art Genozid ist. So wurde der Monotheismus mit Gewalt verbreitet und alles, was früher war, im nachhinein als chaotisch und schlecht dargestellt.

Die Verschleierung führt zudem dazu, daß auch Männern ihre eigenen weiblichen Anteile verwehrt werden. Da werden auch viele Wünsche und Begehrlichkeiten verschleiert und verfremdet. Wenn jemand aus dem Westen es wagt, den Islam infrage zu stellen, dann kommt fast automatisch der Rassismusvorwurf, was ich bedenklich finde. Trotzdem müsste diese Person auch die eigene Religion in Frage stellen. Denn es wurde nicht nur eine Form von sinnlicher weiblicher Magie zerstört und ein absolutes männliches Ideal festgelegt, sondern es fand auch eine Kolonisierung anderer Glaubensrichtungen statt. Auch die Europäer müssen sich noch mit der Geschichte der Christianisierung auseinandersetzen und was diese mit den Menschen hier gemacht hat. Und: Ist es in diesem Zusammenhang nicht interessant, daß die Ursprünge dieser drei Hauptreligionen in der Wüste liegen?