Start

Re-Traumatisierungen


Späte Einsichten: Geriatrie bei Opfern sexualisierter Gewalt

Seit im Herbst 2004 das von „medica mondiale“ herausgegebene Handbuch zur Unterstützung von Frauen erschien, die Opfer sexualisierter Kriegsgewalt wurden, ist die Situation weltweit nicht besser geworden. Und noch immer ist die Arbeit des Vereins nur ein Tropfen auf den heißen Stein. (vgl. „Die Guten sind wir“, Gigi Nr. 37, Mai/Juni 2005). Die meisten Zivilisten – neben Frauen und Mädchen auch Männer und Jungen – müssen nach wie vor allein mit den Folgen von Terrorismus, militärischer Intervention und Krieg klarkommen.

Die Neuauflage des Ratgebers für Fachleute aus den Bereichen Gynäkologie, Psychotherapie und Rechtsbeistand wurde um einen Bereich erweitert, der dabei ganz allgemein auf dem Prüfstand landete: die Altenpflege. Für Martina Böhmer, Altenpflegerin und Autorin des Artikels über den „Umgang mit Gewalt und Trauma in der Altenpflege“ steht fest: Beinahe die Hälfte aller „heute alten Frauen unterschiedlichster Herkunft, die jetzt pflegebedürftig sind oder noch werden“, waren in ihrem Leben Gewalt ausgesetzt, einschließlich Vergewaltigung im und nach dem Krieg, in Ehe oder Kindheit. Darüber hinaus trifft laut einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren und Jugend insbesondere Migrantinnen und Flüchtlingsfrauen häufig physische und sexualisierte Gewalt. Dabei haben vor allem die Alten gelernt, diesen Teil ihrer Biographie zu verdrängen. Obwohl die meisten kaum darüber sprechen, steigt die Wahrscheinlichkeit, im Alter von den Erinnerungen eingeholt zu werden, gerade im Rahmen einer Pflegesituation. Das konkrete Gefühl, dem Personal ausgeliefert zu sein, löst oft eine Retraumatisierung aus, die sich in Form auffälligen Verhaltens wie Abwehr, Panik und Verweigerung äußert. Derartige Symptome werden jedoch selten mit zurückliegenden Ereignissen in Verbindung gebracht und von Medizinern und Psychologen in der Regel als typische Alterserkrankungen, etwa Demenz, diagnostiziert. Im Ergebnis erhalten Pflegeheimbewohnerinnen keine adäquate psychologische Unterstützung, um ihre Traumata aufzulösen oder sie zumindest als solche anzunehmen, sondern werden mit Psychopharmaka „ruhiggestellt“ oder sogar mit Elektrokrampftherapie „behandelt“.

Böhmer bemängelt, die Diagnose „Posttraumatisches Belastungssyndrom (PTBS)“ sei in der Geriatrie noch kaum bekannt. Lediglich einigen Zufallsbefunden engagierter PflegerInnen sei es zu verdanken, daß Patientinnen unter Umständen lebenslang Psychopharmaka einnehmen müssen – mit allen Nebenwirkungen. Trauma-Reaktivierungen nehmen laut Böhmers Forschungen im Alter tendenziell zu – allein durch die notwendige Pflege werden die persönlichen Grenzen einer Person tagtäglich überschritten. Dabei komme es unweigerlich zu Ohnmachtsgefühlen, die an Erlebtes anknüpfen können. Zusätzlich bestehe stets eine reale Gefahr durch – gewollte oder ungewollte – Gewalt seitens des Personals. Ebenso seien ohne Absprache mit der Patientin getroffene Diagnosen und Behandlungen oftmals Auslöser einer Retraumatisierung. Böhmer nennt Alltagssituationen: Sobald morgens die Tür des Zimmers geöffnet wird, wird der Heimbewohnerin jede Entscheidung abgenommen: Sie wird angefaßt, ausgezogen und gewaschen, zur Toilette gebracht und wieder angezogen. Dabei kann jede/r Anwesende sie nackt oder bei medizinischen Prozeduren beobachten, angefangen von der Zimmernachbarin, dem Arzt oder Praktikanten bis zum Handwerker.

Als besonders folgenschwer empfindet Böhmer, daß Pflegende kaum darin ausgebildet seien, den Zusammenhang zwischen einer Verweigerung und sexualisierter Gewalterfahrung zu erkennen. Ein Grund dafür seien die Ziele, die Pflege und Medizin für alte Frauen gesetzt hätten: Die Betreute soll, vor allem in Zeiten zunehmenden Personalmangels, „händelbar“ gemacht werden. Darum schlägt Böhmer vor, durch Gespräche mit der Heimbewohnerin nicht nur deren Würde wiederherzustellen, sondern möglichst gemeinsam mit ihr eine Pflegeplanung aufzustellen. Dabei sollten Absprachen mit ihr verbindlich sein und ihre Autonomie durch das klare Einhalten von Grenzen unterstützt werden. Keinesfalls dürften ihr irgendwelche „Therapiemaßnahmen“ aufgezwungen werden. Allein durch das Respektieren der Persönlichkeit der Betroffenen und explizites Eingehen auf ihre Probleme ließe sich in vielen Fällen bereits eine Verbesserung der Symptomatik erzielen. Andererseits seien auch Pflegende zunehmend überfordert, weil sie trotz gutem Willen vieles aus Zeitknappheit nicht umsetzten könnten. Darum lautet das Fazit der Autorin dieses Artikels: Auch ohne explizite Traumatisierung möchte man sich nur schwerlich an die Vorstellung gewöhnen, eines Tages selbst in einer gerontologischen Klinik zu landen.

Lizzie Pricken

Medica mondiale e.V., Karin Griese (Hg.): Sexualisierte Kriegsgewalt und ihre Folgen. Handbuch zur Unterstützung traumatisierter Frauen in verschiedenen Arbeitsfeldern. Zweite, aktualisierte Auflage, Mabuse Verlag, Frankfurt am Main 2006, 456 Seiten, 34,90 Euro