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Pulleralarm im Bundestag

Wie die schweizerische EKAF Gesetzgebung und Rechtsprechung gegen Barebacker in Deutschland beeinflußt. Von Ortwin Passon

Am 30. Januar 2008 erschienen in der Schweizerischen Ärztezeitung zwei Beiträge, die im Umgang mit dem HI-Virus eine Neubewertung gebieten. Der erste Aufsatz ist ein Kommentar von Pietro Vernazza, dem Präsidenten der Eidgenössischen Kommission für Aidsfragen (EKAF) (1) als der Fachkommission Klinik und Therapie des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) der Schweiz, zu neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Er kommt zu dem Schluß: „HIV-Prävention wird einfacher – also komplexer!“ (S. 163) Nicht nur, weil jeder sexuell aktive Mensch in Europa inzwischen weiß, daß jeder ungeschützte Sexualkontakt Infektionsrisiken beinhalten kann und wie man sich davor zu schützen vermag.

Der zweite Beitrag der Forscher Pietro Vernazza, Bernard Hirschel, Enos Bernasconi und Markus Flepp ist eine offizielle EKAF-Bekanntmachung (2) zu ihrer empirisch belegten Feststellung: „HIV-Infizierte Menschen ohne andere STD sind unter wirksamer antiretroviraler Therapie sexuell nicht infektiös“, sofern drei Bedingungen erfüllt sind. Als da wären: „die antiretrovirale Therapie (ART) wird durch den HIV-infizierten Menschen konsequent eingehalten und durch den behandelnden Arzt regelmäßig kontrolliert; die Viruslast (VL) unter ART liegt seit mindestens sechs Monaten unter der Nachweisgrenze (d. h., die Virämie ist supprimiert); es bestehen keine Infektionen mit anderen sexuell übertragbaren Erregern (STD)“ (S. 165, 167). Eine Tatsache, die in Fachkreisen seit längerem bekannt ist, erhielt nun erstmals im deutschen Sprachraum ihren regierungsamtlichen Segen.

Da demnach also Sexualpartner, von denen einer HIV-positiv und der andere HIV-negativ ist, unter den genannten Voraussetzungen bei ungeschütztem Sex definitiv kein HIV-Infektionsrisiko eingehen, wird sich diese Bekanntmachung auch auf das Zusammenleben von Männern auswirken, die Sex mit Männern (MSM) haben. In Deutschland wird die seit 1988 einschlägige Rechtsprechung zu ungeschützten Sexualkontakten eines HIV-Infizierten (vgl. BGHSt 36,1) mit sofortiger Wirkung auf den Prüfstand gestellt werden müssen. Im Bundestag ist dem Gesetzgeber hinsichtlich der Umsetzung der Ziffern 6 und 7 der ominösen Bundestags-Drucksache 16/3615 gegen HIV-Infizierte (3) der Verweis auf die – nun nicht mehr problemlos zitierfähige – als rigoroser geltende Strafrechtspraxis in Österreich und in der Schweiz wegen fahrlässiger Gefährdung und Verbreitung einer sexuell übertragbaren Krankheit abhanden gekommen.

Explizit hierzu gibt die EKAF bekannt: „Der Befund ‘HIV-infizierte Menschen ohne andere STD sind unter wirksamer ART sexuell nicht infektiös’ ist von den Gerichten bei der Beurteilung der Strafbarkeit der HIV-Übertragung zu berücksichtigen. Ein ungeschützter Sexualkontakt einer HIV-infizierten Person ohne andere STD unter wirksamer ART mit einer HIV-negativen Person kann nach Auffassung der EKAF weder den Tatbestand einer versuchten Verbreitung einer gefährlichen Krankheit im Sinne von Art. 231 Strafgesetzbuch (StGB) noch den Tatbestand der versuchten gefährlichen Körperverletzung nach den Artikeln 122, 123 oder 125 StGB erfüllen“ (S. 167-168).

Daraus resultiert die Frage, inwieweit künftig eine andere Bewertung von ungeschütztem Sex – zunächst nur unter serodiskordanten Paaren in festen Partnerschaften, im nächsten Schritt aber auch für serodiskordanten Zufallsbekanntschaften – im österreichischen und im deutschen Strafrecht vorgenommen werden muß.
Wenn HIV-Positive ohne andere sexuell übertragbare Krankheiten unter wirksamer antiretroviraler Therapie sexuell nicht infektiös sind und insofern auf der Basis derzeitiger Strafrechtsnormen oder dereinstiger Strafrechtsänderungen nicht mehr kriminalisiert würden, wäre das für unzählige sexuell aktive Menschen auch in Deutschland ein moralischer Befreiungsschlag. Denn selbstverständlich kann sich jeder HIV-Positive, HIV-Negative oder nicht auf HIV-Antikörper Getestete, sofern er das will, weiterhin durch die Benutzung von Kondomen insoweit schützen, als er das Risiko einer Infektion mit sexuell übertragbaren Krankheiten für sich minimiert.

Quellen
1 Schweizerische Ärztezeitung/Bulletin des médecins suisses/Bollettino dei medici svizzeri, 2008; 89: 5, S. 163-164; s.a.: www.saez.ch/pdf_d/2008/2008-05/2008-05-085.PDF
2 ebenda, 2008; 89: 5, S. 165-169; s.a.: www.saez.ch/pdf_d/2008/2008-05/2008-05-089.PDF
3 vgl. dazu Passon, O.: Kein Virus ohne Moral. Gigi Nr. 49, und Passon, O./Scherrer, S.: Lovely Rita. Gigi Nr. 52