Am 23. Oktober
zitierte die Frankfurter Allgemeine den Palästinenser Ibrahim:
Ich hätte Said auch selbst getötet. Er hatte kein Recht mehr
zu leben. Die FAZ hakte nach: Weil er Sex mit Männern
hatte? Weil er einen Mann liebte? Weil er gesündigt
hat ... Aber er hätte als Märtyrer ins Paradies einziehen können.
Er hätte seine und die Ehre der Familie retten können. Wir haben
ihm eine Chance gegeben. Doch Said wollte, so die FAZ, nicht
als lebende Bombe in Israel Juden in die Luft sprengen. So hat er sich am
14. März erhängt, und sein jüngerer Bruder Ibrahim, ein
eifriges Mitglied der Hamas, hat ihn gefunden. In den besetzten Gebieten
würden viele Schwule nicht der mit bis zu zehn Jahren Haft bewehrten
Sodomie, sondern der Kollaboration mit Israel angeklagt,
gefoltert und getötet. Homosexualität wird als ein Verbrechen
gegen die Natur gesehen, und wer moralisch so verdorben ist, der muß
auch zur Kollaboration fähig sein, schildert Bassam Eid von Palestinian
Human Rights Watch weitverbreitete Denkmuster. ... So bleibt palästinensischen
Schwulen heute nur eine Möglichkeit: die Flucht. Die meisten machen sich
auf ins Feindesland, nach Israel, einem Staat, der im Umgang mit Homosexualität
zu den fortschrittlichsten der Welt gehört.
In dem
FAZ-Artikel scheint ein notorisches Motiv des Antisemitismus auf: das
sexuelle, das den (pan-)arabischen Nationalismus als Kern des Nahostkonflikts
flankiert und den antijüdischen Verschwörungswahn auf emotionaler
Ebene füttert. Die Geschichte der angeblichen jüdischen Herrschaft
über die Menschen äußere sich etwa in der Verbreitung
moralischer Verderbnis, sexueller Anarchie. Damit zitierte Jochen Müller
im Rahmen einer Veranstaltungsreihe der Initiative Antisemitismuskritik 2003
den islamistischen Autor Muhammad Qutb. Ziel sei laut Qutb die Schwächung
und Zersetzung des arabischen Gegners durch Verbreitung von Impotenz
mittels von Israel vergifteter Kaugummis oder von AIDS durch Agentinnen des
Mossad. So unterstelle ein Buch Krieg der Prostituierten,
jüdische Huren würden auf ägyptische Politiker angesetzt. Westliche
Subtext: jüdische Bevölkerungspolitik stehe im Verdacht,
die Sexualmoral und die Ordnung der Gesellschaft zu untergraben. Das
gilt auch für die Idee der Gleichheit von Mann und Frau oder die Homosexualität
die immer wieder als krank dargestellt und mit Israel bzw.
den Juden in Verbindung gebracht wird. Müller zufolge handele es
sich oft um eigene Wünsche und Bedürfnisse, die aus
verschiedenen Gründen für das Kollektiv und Individuum unerfüllbar
bleiben. Allein die anderen (auch die der eigenen Gesellschaft)
sind Träger von Macht, Luxus, Schönheit, Freiheit und Glück
und zwar, so die Projektion, ohne dafür arbeiten und sich abrackern
zu müssen. Mit ihren Trägern geraten dann auch Macht, Luxus oder
Freiheit (insbesondere etwa sexuelle Freiheit) selber unter Verdacht. So sind
in patriarchalen Gesellschaften immer wieder die Rolle von Frau und Familie,
die Bedeutung der Religion, des kulturellen Erbes oder traditioneller Werte
diejenigen politischen Felder, auf denen die eigene kollektive Identität
gegen die vermeintliche Bedrohung von außen um so vehementer und rigider
verteidigt wird. Leider nur eine Fußnote von Müllers nun
im Band Israel in deutschen Wohnzimmern nachzulesenden Vortrags
Ventil und Kitt verweist in ganz bestimmte deutsche Stuben: Ein
ähnliches Phänomen charakterisiert auch Teile von Migranten mit
muslimischer Sozialisation: Eine Rückbesinnung auf Elemente kollektiver
Identität und traditioneller Werte scheint nicht zuletzt eine Reaktion
auf integrationspolitische Defizite der Mehrheitsgesellschaften zu sein, die
mit zunehmendem politischen und sozialen Druck auf die Migranten einher gehen.
Phänomene des arabisch-islamischen Antisemitismus sind nur ein Topos der Anthologie; andere sind die in der BRD fortwirkende Judenfeindlichkeit nach und wegen Auschwitz und die darin gründende stringent antiisraelische mediale Nahost-Reflexion. Ernüchternd sind die Analyse des linken Antisemitismus sowie der permanenten Sonderbehandlung des jüdischen Staates in internationalen Konferenzen und Organisationen. Faktenreich und außerordentlich komprimiert, sei das Buch dringend vor allem jenen naiven pro-palästinensischen Anti-Imps empfohlen, die selten etwas über die Geschichte Israels wissen, das, so die Herausgeber, oft für Verhaltensweisen kritisiert wird, die jedem Staat immanent sind. Kritisiert gehöre indes die Weltordnung als solche, die Konkurrenz zwischen den Staaten um den Reichtum der Welt mit all seinen Folgen, nicht aber ein einzelnes Land, in dem die Normalität, nämlich Gewalt nach innen und außen, aufgrund medialer Inszenierung aber auch einer besonders angespannten aktuellen politischen Lage besonders zu Tage tritt. Israel ist in diesem Sinne ein Staat wie jeder andere.
Eike Stedefeldt
Initiative Antisemitismuskritik (Hg.): Israel in deutschen Wohnzimmern. Realität und antisemitische Wahrnehmungsmuster des Nahostkonflikts. Ibidem-Verlag, Stuttgart 2005, 240 Seiten, 15,90 Euro