Über
Leichen mit der Pharmaindustrie?
30.
März 2004, Deutschlandfunk: Wenn Kai Köhler einschlägige
Kontakte sucht, weiß er, wohin er muß: in den Schöneberger
Kiez, in die Szeneläden rund um die Motzstraße. Hier geht es schnell
zur Sache. Alle suchen das gleiche, und wenn sie sich einig sind, machen sie
hinten weiter im Darkroom oder auf dem Klo. Man kennt sich nicht. Eigentlich
wären solche Begegnungen nur mit Schutz denkbar, aber der Trend geht
in eine andere Richtung. Anlaß für die erhellende Schilderung
aus dem Berliner Homo-Milieu war eine gemeinsame Presseerklärung
der Kölner Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und
des Berliner Robert-Koch-Instituts (RKI) zur AIDS-Situation in Deutschland.
Hintergründe erläutert der Leiter der RKI-Fachabteilung für
sexuell übertragbare Infektionen, Dr. Osamah Hamouda, im Interview
mit Markus Bernhardt
In einer vielbeachteten Pressemitteilung haben das Robert-Koch-Institut
und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung am 24. März
davor gewarnt, daß die HIV-Epidemie auch in Deutschland eine neue
Dynamik erhalten könnte. Was veranlaßt Sie zu dieser Einschätzung?
Die Anzahl der neu diagnostizierten HIV-Infektionen bei homosexuellen Männern hat im Jahr 2003 die höchste Anzahl seit zehn Jahren erreicht. Insbesondere in den Großstädten können wir eine deutliche Zunahme der Neuinfektionen beobachten. Parallel zu den HIV-Infektionen steigt auch die Anzahl der Syphillis-Infektionen. In Befragungen zum Gebrauch von Kondomen bei schwulen Männern zeigt sich, daß das Schutzverhalten ab- und die Risikobereitschaft zunimmt. Das alles veranlaßt uns zu der Einschätzung, daß es in der Zukunft zu steigenden Neuinfektionen kommen wird.
Sind
homosexuelle Männer immer noch die Hauptbetroffenengruppe?
Ja. Seit Beginn der Epidemie in den achtziger Jahren waren homosexuelle Männer diejenigen, die am stärksten von der Krankheit betroffen waren. Das ergibt sich einfach daraus, daß in dieser Gruppe sehr viele sexuelle Kontakte auch mit unterschiedlichen Partnern stattfinden. Nach unserer Statistik machen die Gruppe der schwulen Männer jährlich fast die Hälfte aller Neuinfizierten aus.
In
welchen Bevölkerungsgruppen ist die Zahl der Neuinfektionen mit dem Virus
zurückgegangen?
Bei Personen, die intravenös Drogen spritzen, können wir feststellen, daß die Anzahl der Neuinfektionen zurückgegangen ist. Dies ist auf grundlegende Verhaltensänderung insbesondere das Vermeiden von Nadeltausch und das Verwenden von Einmal-Spritzen oder zumindest gut gereinigten Spritzen (safer-use) zurückzuführen.
Wie
erklären Sie sich die zunehmende Risikobereitschaft?
Wir glauben, daß der Therapieoptimismus in diesem Zusammenhang eine große Rolle spielt. Früher, als es noch keine Medikamente gegen HIV gab, haben die Menschen die Krankheit als absolut tödliche Bedrohung empfunden. Heute stehen mehr Medikamente zur Verfügung, die den Krankheitsverlauf abmildern oder verzögern können. Viele der jüngeren Menschen, die den AIDS-Schock Mitte der 80er Jahre nicht miterlebt haben, sind bereit, ein höheres Risiko einzugehen. AIDS wird mittlerweile als nicht mehr so große Gefahr eingeschätzt. Daher sehen viele Menschen keine Notwendigkeit mehr, sich mit Kondomen vor AIDS und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten zu schützen.
Sie
meinen also, daß gewissen Personengruppen weniger bewußt ist,
daß der Krankheitsverlauf bei einer HIV-Infektion immer noch tödlich
endet?
Ja. Das liegt unter anderem daran, daß in den Medien natürlich mehr über Therapieerfolge berichtet wird. Auch auf den Fachkongressen werden eher junge, gesund aussehende Männer gezeigt, die augenscheinlich mitten im Leben stehen. Dabei vergessen viele Menschen, daß zwar die medizinische Behandlung die Erkrankung abmildern kann, aber noch niemand geheilt worden ist. Man muß nun einmal nach wie vor davon ausgehen, daß man selbst mit einer erfolgreichen Therapie schwere Folgeerkrankungen erleiden und irgendwann auch sterben wird, wenn man einmal mit dem Virus infiziert ist.
Für
den fatalen Bewußtseinswandel bei schwulen Männern
in Sachen Safer Sex hat der Präsident Ihres Instituts, Reinhard Kurth,
im Deutschlandfunk die Pharma-Industrie verantwortlich gemacht, deren Anzeigen
ein sorgloses Leben mit AIDS versprechen. Warum hat Ihr Institut dies nicht
schon viel früher kritisiert?
Reinhard Kurth und auch unser Institut haben die Industrie auch schon früher in Bezug auf ihre Werbestrategien kritisiert. Die Werbematerialien der Pharma-Industrie zeichnen in unseren Augen ein zu optimistisches Bild von den verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten. Das wiederum verstärkt bei den Betroffenen natürlich den Eindruck, daß die HIV-Infektion nicht mehr so schwerwiegende gesundheitliche Folgen hat, wie es in der Realität der Fall ist.
Müßte
Ihr Institut dann nicht verstärkt die realitätsfremde Werbung der
Pharma-Unternehmen kritisieren? Beispielsweise durch eine mediale Gegenkampagne?
Ich weiß nicht, ob das viel bringen würde. Wir glauben, daß wir an das Verantwortungsbewußtsein der Pharma-Industrie appellieren und sie zu einer gewissen Zurückhaltung bewegen können.
Die
Pharma-Industrie ist in Sachen AIDS bisher mehr als einmal über Leichen
gegangen. Erinnert sei an weltweite Skandale mit verseuchten Blutkonserven
und Medikamenten für Bluter, in die beispielsweise der Bayer-Konzern
verwickelt war. Reichen Appelle wirklich aus, um die Situation zu verändern?
Das sehe
ich nicht so, und das RKI hat hier auch keine Sanktionsmöglichkeiten.
Man darf sicher auch nicht vergessen, daß Industrieunternehmen auch
darauf angewiesen sind, einen gewissen Profit zu erwirtschaften ... Auch
auf Kosten von Menschenleben?
Auf Kosten von Menschenleben darf sicherlich niemand Profit machen. Man
muß jedoch auch bedenken, daß die Forschung der Pharma-Industrie
letztendlich die Erfolge in Bezug auf die Behandlungsmöglichkeit von
HIV-Infizierten hervorgebracht hat. Dies bedeutet trotzdem nicht, daß
man die Pharma-Unternehmen nicht kritisieren darf.
Die
meisten Massenmedien und auch die Familienpolitiker der verschiedenen Parteien
schienen von ihren aktuellen Erkenntnissen in Bezug auf die Entwicklung von
HIV in der Bundesrepublik überrascht worden zu sein. Wundert Sie das?
Ich glaube, das liegt daran, daß HIV etwas aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden ist. Zwar wird noch zum Welt-AIDS-Tag oder zu anderen Großereignissen berichtet, aber das Thema beherrscht eben nicht mehr so den Alltag des Durchschnittsbürgers. Dies ist insofern verständlich, als nur bestimmte Personengruppen mit einem gewissen Risiko leben, sich zu infizieren.
Es
fällt auf, daß der erneute Anstieg von HIV-Infektionen in unserem
Land erst in dem Moment für die Massenmedien ein Thema wird, wo bestimmte
Bevölkerungsteile verantwortlich gemacht werden können. Der Deutschlandfunk
ließ seine Hörer beispielsweise wissen, daß der gefährliche
Trend ... vor allem durch die Hauptrisikogruppe der schwulen Männer
verursacht werde und zeichnete ein bedrohliches Bild der schwulen Szene mit
ihren Darkrooms und angeblich zügelloser sexueller Freizügigkeit.
Ist schwule Promiskuität also doch der Motor der Seuche,
wie es Der Spiegel schon in den 80er Jahren behauptete?
Zur Berichterstattung des Spiegel über das Thema HIV und AIDS will ich nicht viel sagen. Das liegt ja nun schon lange zurück.
Das
hört sich nicht positiv an ...
Leider
ist es so, daß unsere Medienwelt so funktioniert, daß nur schlechte
Nachrichten gute Nachrichten sind und sich verkaufen lassen.
Sehen
Sie denn die Gefahr, daß schwule Männer nun, nach zwanzig Jahren
AIDS-Aufklärung, wieder zum Hauptrisiko erklärt werden?
Nein, diese Gefahr sehe ich eigentlich nicht. Schwule Männer sind nicht ein Risiko, sondern sie haben ein erhöhtes Risiko sich zu infizieren. Promiskuität ist unabhängig von Geschlecht oder sexueller Orientierung ein Hauptrisikofaktor für eine HIV-Infektion. Aber schwule Männer haben eine Verantwortung, sich selbst beziehungsweise ihre Partner vor einer Infektion zu schützen.
Sie
selbst haben in der erwähnten Pressemitteilung gesagt, es sei wichtig,
im Gespräch mit dem Patienten nach dem wahrscheinlichen Infektionsweg
zu fragen und die Antworten auf dem Meldebogen zu vermerken. Viele schwule
Männer wollen jedoch aus nachvollziehbaren und auch historischen Gründen
nicht, daß Behörden Kenntnis von ihrer Homosexualität erhalten
und dies vermerkt wird. Wie beurteilen Sie diese Vorbehalte?
Es gibt in Deutschland eine gesetzlich vorgeschriebene nichtnamentliche Meldepflicht für HIV-Infektionen. Die gibt es aber für andere, auch sexuell übertragbare Krankheiten ebenso. In sofern ist daran nichts ungewöhnlich. Die Meldepflicht bei HIV wird völlig anonym durchgeführt. Niemand muß da um die Aufdeckung seiner Identität fürchten. Ohne genaue Angaben zum Infektionsweg könnten wir keine verläßlichen Angaben über die Entwicklung der HIV-Epidemie machen.
Was
wollen Sie gegen die steigende Risikobereitschaft mancher Personengruppen
unternehmen?
Es bedarf immer neuer Präventionsmethoden und Aufklärungskampagnen auch für nachwachsende Generationen. Man darf sich auf keinen Fall auf dem Erreichten ausruhen. Wir brauchen Präventionskonzepte, die spezifisch auf die Empfänger zugeschnitten sind. Die Aufgabenteilung zwischen staatlichen Stellen sowie Selbsthilfe- und Betroffenengruppen bei der Präventionsarbeit ist hier sehr erfolgreich.
Aufklärungskampagnen
kosten jedoch auch Geld. Der Berliner Senat hat beispielsweise eine Gebühr
von 10 Euro für den bisher kostenlosen HIV-Test beschlossen und die finanzielle
Unterstützung für die AIDS-Hilfe und Selbsthilfegruppen massiv gekürzt.
Bei allem Verständnis dafür, daß Berlin und andere Bundesländer unter dem Sparzwang leiden, müssen wir doch überprüfen, womit man wirklich Geld sparen kann und welche Sparmaßnahmen am Ende sogar noch mehr kosten. Ich bin davon überzeugt, daß man mit der Einführung einer Gebühr für den HIV-Test, durch den im Jahr vielleicht einige zehntausend Euro zusammenkommen, noch nicht einmal die Verwaltungskosten für diese Gebühreneinführung decken kann. Deshalb halte ich das Vorgehen des Berliner Senats für absolut kontraproduktiv. Daß bewährten Präventionsmaßnahmen die Mittel gekürzt oder sogar ganz entzogen werden, sehen wir mit großer Sorge.
Handelt
die Politik grob fahrlässig?
Wir sehen mit Sorge, daß die Kürzungen im Präventionsbereich negative Auswirkungen haben werden und auch schon haben. Diese gilt es dringend zu vermeiden.