Pfusch
ist Trumpf
Ob Horoskope, Pendelschwung oder Tantra: Der moderne Homo (homo)sexualis ist anfällig für Esoterik. Schließlich will sich man oder frau einer ungewissen Zukunft versichern, die gestern noch halbwegs planbar erschien, aber heute in der Globalisierung verschwindet. Während an der Supermarktkasse jede Preiserhöhung für Butter diskutiert wird, werden für okkulten Unfug ohne zu zögern höhere Beträge hingeblättert. Dem Theologen wird nicht mehr geglaubt, dem Bankberater nicht und nicht der Politik, dem gesunden Menschenverstand erst recht nicht, allenfalls dem gesunden Volksempfinden. Auch ein Arzt zählt nicht zur bevorzugten Befragungsklientel. Denn es geht ja um die hypochondrische Psyche, nicht den kranken Leib! Warum sollte das früher anders gewesen sein, fragt Florian Mildenberger
Sexualgeschichte
ist bislang nahezu ausschließlich Geschichte schulmedizinischer Heroen.
Seltsam einig agieren hier Medizinhistoriker, Kulturhistoriker und Sozialwissenschaftler.
Dabei genügte schon ein flüchtiger Blick in Einführungswerke
zur Geschichte der Alternativmedizin, um jedem noch so vorurteilsbeladenen
Leser schlaflose Recherchenächte zu verschaffen (1). Doch ist Sexualgeschichte
vor allem das Bewahren von Legenden, die Überhöhung einzelner Forscher
(Hirschfeld, Bloch etc.) und nicht die konsequente Untersuchung komplexer
sozialer Bewegungen, in denen es viele kleine Rädchen, aber keine leicht
identifzierbaren selbst ernannten Genies gab.
Jahre bevor Magnus Hirschfeld
seine Anstrengungen zur Abschaffung des Homosexuellenparagraphen 175 begann,
hatte der (heterosexuelle) Laienheilkundige Reinhold Gerling (zum Teil unter
dem Pseudonym Otto de Joux) schon entsprechende Versuche gestartet. Während
Gynäkologen mit Uterusproblemen kämpfende Frauen in den 1880er Jahren
wahlweise kastrierten, mit Verätzungen traktierten oder die Vagina brutal
dehnten, hatte der schwedische Autodidakt Thure Brandt längst eine schonende
Genitalmassage entwickelt. Als zahlreiche Ärzte in Deutschland Ende des
19. Jahrhunderts Symptombehandlungen für komplexe psychosomatische
Beschwerden anwandten, empfahlen Naturärzte eine Ernährungsumstellung,
Wassertherapien, Luft- und Lichtbäder, um den Organismus anzuregen, und
forderten eine Reform des Wohnungsbaus.
Auch die Emanzipation
der Frau erschien Naturheilern wichtig und förderungswürdig. Erst
allmählich schwenkten Schulmediziner auf diesen Kurs ein,
nicht ohne zu betonen, daß es weiterhin notwendig sei, vor allem auf
dem Gebiet der Therapie am lebenden Subjekt ohne dessen Einwilligung zu forschen.
Der Dermatologe Albert Neisser injizierte ihm zur Heilung anvertrauten Patientinnen
einen dilettantisch konzipierten Syphilisimpfstoff, der sie lediglich infizierte,
statt sie zu heilen. Mit Fachkollegen gründete der Experimentator Neisser
die Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten (DGBK),
die neben einer rigiden Sexualmoral vor allem zwei Ziele verfocht: zum einen
die Bekämpfung der lästigen Konkurrenz der Laienheilkundigen und
zum anderen eine umfassende, alsbald jedes Arzt-Patienten-Verhältnis
unterminierende Volksgesundheitspropaganda, die auf die Ächtung von Geschlechtskranken
abzielte. Spätestens 1904 entschied sich auch der zuvor mit den Naturärzten
liebäugelnde Magnus Hirschfeld endgültig für die Schulmedizin,
deren Vertreter den Homosexuellen zwar das Recht auf freie Sexualentfaltung
zugestehen wollten, sie aber zugleich in pathologisierende Deutungsmuster
stellten (2) .
In der Presse des zweiten
deutschen Kaiserreiches und später der Weimarer Republik wimmelte es
von Berichten über Skandale rund um die Verletzung der Intimsphäre
von Patientinnen, des Mißbrauchs des Arztgeheimnisses und fragwürdige
Experimente, die vordergründig Heilzwecken dienen sollten,
vor allem aber dem Adrenalinspiegel profilneurotischer Möchtegern-Nobelpreisträger
nutzten. Um sich einen liberalen Anstrich zu verschaffen, befürworteten
diese zumeist an Universitätskliniken tätigen Mediziner nach 1905
das Frauenstudium, die Liberalisierung des Sexualstrafrechts und einige weitere
gesellschaftspolitische Reformprojekte. Daneben waren sie bemüht, sich
des großen Reservoirs an potentiellen Probanden aus den sozial benachteiligten
Schichten weiter zu versichern, indem sie sich im Bedarfsfall als Gutachter
wechselseitig entlasteten. Jede noch so komplexe und langwierige Behandlung
auf dem Gebiet der Sexualität wurde sogleich als großer Erfolg
gefeiert, so zum Beispiel die Salvarsankur der Syphilis, die 1910/11 auf den
Pharma-Markt kam und eine langandauernde Therapie bedeutete. Auch mußten
die Dermatologen spätestens 1913 einräumen, daß der Nachweistest
für den Syphiliserreger (Wassermann-Test) als allgemeingültiger
Beweis für den Erfolg einer Salvarsankur untauglich war. Gleichzeitig
aber schürten insbesondere Dermatologen und Gynäkologen die Furcht
vor den Geschlechtskrankheiten, predigten Askese oder Selbstdisziplin
und warnten vor den negativen Folgen andauernder Onanie, wenn die sexualneurotischen
Patienten auf diese Weise versuchten, Dampf abzulassen. Psychische Probleme,
die in Impotenz oder Frigidität mündeten, waren für den/die
Betroffene/n gleichbedeutend mit vernichtenden Urteilen: Hysterie/Unzurechnungsfähigkeit
oder Unmännlichkeit.
Angesichts dieser Aussichten
darf es nicht verwundern, wenn zahlreiche Menschen sich bei sexuellen Problemen
nicht an Allgemeinmediziner oder selbsternannte Spezialärzte für
Sexualleiden wandten, sondern den Laienheilkundigen (Kurpfuscher)
von nebenan kontaktierten. Bis 1914 konnten dessen Leistungen sogar über
die Krankenkasse abgerechnet werden, danach schätzten die Patienten die
niedrigen Entgelte und die psychotherapeutische Betreuung, da die meisten
Laienheiler scheinbar veraltete, jedoch der Patientenbetreuung nützliche
Konzepte vertraten. So nahmen viele Heiler an, der Mensch verfüge über
eine Lebenskraft (vis vitalis), die durch Zusprache, Suggestion
oder spezielle Stärkungsmittel gefestigt werden könne, um so den
Gesamtorganismus zu verbessern. Auch die antike Säftelehre (Humoralpathologie)
war noch weit verbreitet. Hieraus folgerten Alternativmediziner, es gäbe
bestimmte Schlüsselsubstanzen, die im Körper im Einklang sein müßten
und nahmen so die Hormonlehre vorweg.
Selbstverständlich
waren in der Laienmedizin Vorurteile ebenfalls weit verbreitet; nicht jeder
wollte Homosexualität als normale Variante des Geschlechtslebens
sehen oder hielt Masturbation für harmlos. Weshalb sollten auch Kurpfuscher
weniger Extreme vertreten als die Schulmediziner? Auf jeden Fall
aber boten sie den Heilsuchenden bei genitalen Leiden Beistand und absolute
Verschwiegenheit. Homöopathische Präparate mochten weder Syphilis
noch Tripper heilen, aber die Symptome zum Verschwinden zu bringen, ganz ohne
Offenbarung gegenüber Mitmenschen, dem Arzt beziehungsweise der Krankenkasse.
Naturheilkundliche Behandlungen stärkten den Organismus und verliehen
häufig ein gesundes Aussehen eine geniale Sache in einer Welt,
in der Schein mehr galt als das Sein. Bei Impotenz standen die Laienheilkundigen
mit zahlreichen wirkungslosen, aber auch meist harmlosen Präparaten bereit.So
etwa der Mannbarkeitssubstanz des Apothekers Albin Koch aus Berlin-Spandau
oder den Coca-Präparaten von Dr. di Centa aus Schwäbisch-Hall.
Der Suggestionseffekt half hier nach, und solche pharmakologischen Eintagsfliegen
waren sicher bekömmlicher für das Sexualleben als Eisstäbe
in der Vagina, Cauterisierung der Eichel des Mannes oder leberschädigende
Brom-Kali-Präparate aus der Hand des Spezialarztes. Als dann
in den 1920er Jahren die Hormonpräparate auf den Markt drängten,
entblödete sich der Sexualforscher Magnus Hirschfeld nicht, einerseits
zuzugeben, gar nicht zu wissen, welche Hormone wie wirkten (sie aber gleichwohl
in Tablettenform teuer zu verkaufen) (3), und andererseits die Präparate
der Kurpfuscher als Humbug zu geißeln (4) . Es ist
heute schwer vorstellbar, daß derartige Bocksprünge der Klientel
entgangen sein sollen.
Vor allem aber boten die
Alternativmediziner bei wirklich drängenden Problemen rasche Hilfe. Während
die selbsternannten Sexologen im Institut für Sexualwissenschaft
gemeinsam mit den Hasardeuren der DGBK phrasendreschende Pamphlete gegen Abtreibung
(sowie abtreibende Frauen!) und soziale Not verfaßten, legten die Laienheilkundigen
selbst Hand an. Mit Kräutermischungen oder der Neuinterpretation der
Genitalmassage von Thure Brandt lösten sie Aborte aus oder leisteten
Sexualaufklärung in Proletengegenden. Natürlich gab
es gerade auf diesem Gebiet ein umfangreiches Unwesen mit Spülungen,
Ätzungen und verbrecherischen Methoden. Aber die Mehrheit der Heiler
war erheblich professioneller, als es ihre Verfolger in Justiz und Medizinalverwaltung
gelegentlich glauben machen wollten.
Auch nach dem endgültigen Verbot der Behandlung von Geschlechtskrankheiten
durch Pfuscher 1927 und der radikalen Verfolgung von Engelmachern
und Sexpfuschern im Nationalsozialismus gab es weiterhin ein breites
Interesse an den Leistungen der Alternativheiler in den unterprivilegierten
Bevölkerungsschichten. So waren die 1937 eingesetzten Vertrauensärzte
der Krankenkassen vor allem bemüht, Kosten von den Kassen auf die Patienten
abzuwälzen und Asoziale aktenkundig werden zu lassen. Asozial
wurde man leicht: Es genügte, wiederholt geschlechtskrank gewesen zu
sein oder ledig schwanger, ein unmännliches Auftreten zu
haben oder ein Leben in traditionellen Familienverhältnissen zu verweigern.
Daneben bestand die Gefahr, von Ärzten als erbkrank angezeigt
zu werden Sterilisierung war die fast automatische Konsequenz. Laienheilkundige,
manchmal auch die 1939 legitimierten Heilpraktiker, waren da geschätzter.
Je härter die Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime, je
radikaler die letzten Bastionen des Privatlebens geschleift wurden, desto
besser funktionierte der subkulturale Gesundheitssektor.
Dies galt auch für die miefige Zeit nach 1945. So warnte noch 1959 der
am Westberliner Martin-Luther-Krankenhaus tätige Gynäkologe Heinrich
Gesenius, daß die Verweigerungshaltung vieler Ärzte gegenüber
Fragen der Empfängnisverhütung oder sexologischen Fragen die PatientInnen
geradezu in die Arme der Kurpfuscher treibe (5).
Erst nach der Liberalisierung
des Sexualstrafrechts sollte sich die Situation entspannen. In der DDR dürfte
es ähnlich gewesen sein.
Doch in Zeiten wiederkehrender staatlicher Repression und der erneuten Fixierung
der tonangebenden sogenannten Schwulen- wie auch der Frauen- und Lesbenbewegungen
auf Staat und klassische Ärzteschaft könnte heute die Morgendämmerung
für Engelmacher oder Sex-Therapeuten verschiedenster Art anbrechen.
Quellen
1 Robert Jütte: Geschichte der Alternativen Medizin, München 1996;
Uwe Heyll: Wasser, Fasten, Luft und Licht. Die Geschichte der Naturheilkunde
in Deutschland, Frankfurt/M. 2006
2 Georg Merzbach: Die Lehre von der Homosexualität als Gemeingut wissenschaftlicher
Erkenntnis. In: Monatsschrift für Harnkrankheiten und sexuelle Hygiene
1 (1904), 16-22
3 Magnus Hirschfeld/Bernhard Schapiro: Über die Spezifität der männlichen
Sexualhormone. In: Deutsche medizinische Wochenschrift 53 (1927), 1344-1346.
4 Magnus Hirschfeld/Richard Linsert: Liebesmittel, Berlin 1930
5 Heinrich Gesenius: Empfängnisverhütung, 2. Auflage, München
1959, 134