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Pflegestufe Null

„Was bedeutet menschenwürdiges Sterben heute? Die Antwort lautet: Es ist zu teuer“, erklärte SPD-Mitglied Dieter Hildebrandt, Spiritus Rector des öffentlich-rechtlichen Satiremagazins „Scheibenwischer“, im Sommerloch 2004 als Gast der grünen Ex-Gesundheitsministerin Andrea Fischer in deren n-tv-Talkshow „Grüner Salon“. Ein Jahr danach, im Juni 2005, soll das Pflegegesetz auf Betreiben der Bündnisgrünen und dank eines sekundierenden Bundesverfassungsgerichtsentscheids durch eine Allparteienkoalition „reformiert“ werden: Voraussichtlich werden die Bezugsvoraussetzungen von Pflegegeld erschwert und die Pflegegeldhöhen reduziert. Ein aktueller sozialrechtlicher Lagebericht von Ortwin Passon

Die FELIX Pflegeteam gGmbH der Berliner AIDS-Hilfe (1) und die Ambulante Pflege HIV gGmbH (2) zählen zu den wenigen Einrichtungen bundesweit, die sich auf die ambulante Pflege von HIV-Positiven und an AIDS Erkrankten spezialisiert haben und noch nicht gänzlich den Rotstiften der öffentlichen Verwaltungen zum Opfer gefallen sind. Doch nicht nur weil die Bundeshauptstadt durch Akteure sämtlicher bürgerlicher Parteien ausgeraubt worden ist, hält Hermann Schulte-Sasse, Staatssekretär der Berliner Gesundheits- und Sozialsenatorin Heidi Knaake-Werner (PDS), es inzwischen für politisch nicht mehr vertretbar, auch künftig zwei derartige Pflegedienste in der deutschen Homometropole zu subventionieren. Als Folge der Umverteilung öffentlicher Gelder in private Taschen während des „Berliner Bankenskandals“ werden beide Einrichtungen zum 1. Januar 2005 fusionieren und zur Belohnung mit um die Hälfte gekürzter Staatsknete auskommen müssen: Hatten diese Dienste bisher über den Landesverband Berliner AIDS-Selbsthilfeprojekte (LaBAS), welcher die pekuniären Verhandlungen mit der Administration führt, noch jeweils 100.000 Euro jährlich an öffentlichen Zuwendungen erhalten, um durch FELIX 68 und durch HIV 85 erheblich und schwerpflegebedürftige AIDS-Kranke ambulant zu versorgen, so werden diese Zuschüsse mit der Fusion zu Beginn dieses Jahres um 50 Prozent gekürzt – bei weiterhin 153 zu pflegenden Menschen. Diese sozialistische Form der Wegelagerei wird argumentativ auf „Effizienzsteigerung“ reduziert und als „Kostensenkung“ im Gesundheits- und Sozialwesen verballhornt: gleiche „Kundengruppe“, weniger „Konkurrenz“, „verschlankte“ Geschäftsführung.
Politikdarsteller wie Schulte-Sasse und Knaake-Werner als abrißbirneschwingende Geisterfahrer in einer bundesweit verhartzten Gesundheits- und Soziallandschaft sind jedoch austauschbar in Person und Funktion. An AIDS erkrankte Pflegebedürftige, die sich nicht stationär in ordinären Pflegeeinrichtungen oder Sterbehospizen endlagern lassen wollen, können sich außerhalb der deutschen AIDS-Capitale nur noch in Frankfurt am Main (3), Düsseldorf (4) und Hannover (5) durch entsprechend spezialisierte Pflegedienste ambulant versorgen lassen.

Billiger sterben mit Schwarz-Rot-Grün

„Pflegebedürftigkeit kann für die Betroffenen und ihre Angehörigen große physische, psychische und finanzielle Belastungen bedeuten. Einen allgemeinen Versicherungsschutz für den Fall der Pflegebedürftigkeit, insbesondere einen sozialversicherungsrechtlichen Schutz wie im Falle von Krankheit, gab es trotz der zwischen Pflege und Krankheit oft fließenden Grenzen bis 1995 nicht. Die mit der Pflege verbundenen Belastungen mußten bis dahin grundsätzlich die Pflegebedürftigen und ihre Familien tragen“, lobt Ulla Schmidts Gesundheits- und Sozialministerium in einer hauseigenen Broschüre (6) das von der Vorgängerregierung eingeführte Gesetz über die soziale Pflegeversicherung als „fünfte Säule“ – neben der Renten-, Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung – der derzeit im Zuge des Schröder-Blair-Papiers und der Agenda 2010 privatisierten Sozialversicherung.

Alles kann, nichts muß

Noch können Menschen mit AIDS und andere chronisch Kranke die derzeit möglichen Leistungen bei nachweislicher Pflegebedürftigkeit in den Bereichen Körperpflege, Ernährung und Mobilität gegenüber ihrer zuständigen Krankenkasse beantragen. Die Begutachtung und Einstufung erfolgt durch bewährte Angehörige des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MdK) in die Pflegestufe 0 für Bedürftige, die unter 40 Minuten Hilfe täglich benötigen und deshalb von Sach- oder Geldleistungen ausgeschlossen werden, oder die Pflegestufen für „erheblich Pflegebedürftige“ (I), „Schwerpflegebedürftige“ (II) oder „Schwerstpflegebedürftige“ (III), welche bei häuslicher Pflege durch An- und Zugehörige – zum Beispiel neben ihrer Erwerbsminderungsrente – ein Pflegegeld von 205 Euro (I), 410 Euro (II) oder 665 Euro (III) monatlich ausgezahlt oder aber erheblich höhere Sachleistungen von monatlich bis zu 1.918 Euro bei Härtefällen (IV) erhalten können. Doch diese gesetzlich zustehenden Leistungen gibt es nicht unbefristet: Nach einigen Jahren kommt es zur Folgebegutachtung, aufgrund derer diese regelmäßigen Leistungen wieder aberkannt werden können. Das MdK-Prüfergebnis wird der Pflegekasse der zuständigen Krankenkasse mitgeteilt, die über Pflegebedürftigkeit und Pflegestufenhöhe entscheidet. Erst ein solcher Pflegebescheid kann gegebenenfalls im sogenannten Widerspruchsverfahren korrigiert werden. Gesetzlich Krankenversicherte haben übrigens ein Recht auf Einsicht in das dem Einstufungsbescheid zugrunde liegende MdK-Gutachten. Tips zur Vorbereitung auf diese Begutachtungen und viele andere nützliche Hinweise enthält die sehr gute Broschüre „Pflegen und pflegen lassen“ der Deutschen AIDS-Hilfe. (7)

Winterschlußverkauf bei Gerd und Ulla

Im Zuge der mehrheitlich gewollten Privatisierung der durch Zwangsabgaben bereits finanzierten, jedoch durch die öffentliche Hand quasi veruntreuten Geldmittel zur Daseinsvorsorge und Absicherung individueller Lebensrisiken seitens der Verursacher der sozialen Verelendung chronisch Kranker hierzulande wird „zunehmend der Verweis auf Stiftungen wie beispielsweise die DAS“ (8) beobachtet – so Sozialberater Gert Wüst während der Verkaufsveranstaltung „HIV im Dialog“ im September 2004 in Berlin (vgl. Gigi Nr. 34, S. 10). Unterdessen wehren sich diese Stiftungen aber verständlicherweise dagegen, wegen des anscheinenden Politikversagens der mit der Durchsetzung von Kapitalinteressen beauftragten Regierenden vorrangig in Anspruch genommen zu werden.

Letztere bekamen jedoch kürzlich Feuerschutz aus Karlsruhe: Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, daß Eltern bei der Pflegeversicherung zu entlasten seien – eine prima Steilvorlage für den Bundesgesetzgeber, um Kinderlose zusätzlich abzukassieren und die Produktion von neuen Lohnkostendrückern auf dem zukünftig verschärften Arbeitslosenmarkt zu honorieren. Die Restauration des unbeliebter gewordenen Herrschaftsmodells „Ehe und Familie“ muß ja schließlich auch irgendwie finanziert werden. Und sei es auf Kosten „bevölkerungspolitischer Blindgänger“.

Anmerkungen/Quellen

1) Meinekestraße 12, 10719 Berlin, Tel. 030/887111-80, Fax -88, E-Mail: info@felix-pflegeteam.de, http://www.felix-pflegeteam.de
2) Reichenberger Str. 96, 10999 Berlin, Tel. 030/6918033, Fax 030/6943349, E-Mail: pflege@hiv-ggmbh.de , http://www.hiv-ggmbh.de
3) Regenbogendienst der AIDS-Hilfe Frankfurt e.V., Friedberger Anlage 24, 60316 Frankfurt, Tel. 069/405868-0, Fax -40, E-Mail: pflege@frankfurt.aidshilfe.de , http://www.frankfurt.aidshilfe.de
4) Care24 Pflegeservice gGmbH, Borsigstraße 34, 40227 Düsseldorf, Tel. 0211/72 01 86, E-Mail: info@care24-pflegeservice.de, http://www.care24-pflegeservice.de
5) SIDA e.V., Stolzestr. 59, 30171 Hannover, Tel. 0511/624568 und 664630, Fax 0511/623944, E-Mail: sida-e.v.hannover@t-online.de , http://www.sida-hannover.de
6) Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung: Pflegeversicherung. Schutz für die ganze Familie, Berlin, Stand: September 2003, 76 S.; zu bestellen ebenda unter Tel. 0180/5151510 oder per E-Mail unter info@bmgs.bund.de
7) Deutsche AIDS-Hilfe (DAH): Pflegen und pflegen lassen, 3. akt. u. überarb. Aufl. 2003, 192 S., zu bestellen bei der DAH, Dieffenbachstr. 33, 10967 Berlin, Tel. 030/690087-0, E-Mail: dah@aidshilfe.de
8) Deutsche AIDS-Stiftung, Einzelfallhilfe, Markt 26, 53111 Bonn, Tel. 0228/60469-21; Einzelfallhilfeantrag nebst Vergaberichtlinien