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Online-Schwalben

Nichts ist so banal wie Prostitution – außer vielleicht das Lamentieren der Spießer über ihr Vorhandensein. Auch in Zeiten des Internets hat sich daran nichts geändert. Wie es so ist, sein Geld auf poppen.de zu verdienen, schildert nach Gesprächen mit Akteurinnen Felix Fidelski

Lina ist gerade 18, heißt im Netz Alice und zählt offiziell 21 Jahre. Auf den Fotos sieht man nur lange Beine und blonde Haare, die überschminkten Schatten und die traurigen Augen bemerkt kaum ein Freier: Die sind „auf Koks und Viagra und blind wie dumm“, erklärt sie freimütig. Immerhin haben die meisten mittlerweile begriffen, daß ein Kondom Pflicht ist. Daß es auch ihnen nutzt, sich nicht mit irgendwelchen Erregern oder Viren zu infizieren, hat der Großteil noch nicht bemerkt. Die Ignoranz gegenüber AIDS ist generationenübergreifend, sie betrifft den pubertierenden Knaben ebenso wie seinen potentiellen Großvater, der am frühen Abend noch einmal Hormone und Rente zusammenrafft, um sich seines Mannseins zu versichern. Für den 70-Jährigen mit DSL-Anschluß ist Viagra die Rettung, für den Jugendlichen aber Pflicht, hat Lina festgestellt. Die blaue Pille in Originalform oder als indische Kopie hat die „Zigarette danach“ als dominierendes Element im heterosexuellen Schlafgemach abgelöst. Linas Kundenkreis hat recht klar umrissene Vorstellungen von der Idealfrau: Blond und jung soll sie sein, da darf es auch mal mehr kosten, bis zu 250 Euro kassiert die Schülerin pro Nummer.

Auf poppen.de finden sich auch höhere Preise, doch die sind nach Ansicht von Paula Hirngespinste und Träume unerfahrener Mädchen, die vom großen Geld träumen, ohne zu wissen, was es bedeutet, sich tagtäglich vom eigenen Körper zu verabschieden, der als Projektionsfläche männlicher Dominanzphantasien dienen muß. Das ist insbesondere für Paulas Kundenkreis eine wichtige Betätigung, denn ihre Freier sind meist schmächtige Vertreter des Stehkragenproletariats, die den dominanten Chef derart verinnerlicht haben, daß sie auch im Bett etwas Großes brauchen, das sie wenigstens dieses eine Mal und gegen Cash beherrschen können. Paula ist 28, nennt sich Tatjana und ist mit 120 Kilo bei 1,75 Metern Körpergröße gut gebaut. Die Körbchengröße E nimmt man ihr ohne weiteres ab. Bei einem Milchkaffee schildert sie teilnahmslos, wie sie auf dürren Jünglingen und gealterten Epheben sitzt, Orgasmen simuliert und sich stets beherrschen muß, nicht laut loszulachen, wenn 50 Kilogramm männlichen Knochengeklappers vom großen Orgasmus stöhnen. Dazwischen gibt es immer wieder die Abenteurer, die wissen wollen, wie es ist, mit einer Rubensfrau zu schlafen, und es dann doch nie erfahren, weil sie wie auch sonst bei Ehefrau oder Freundin viagragestählt ins Bett springen und nichts fühlen außer einer rotglühenden Eisenstange im Schritt und den brüllenden Kopfschmerzen am Tag danach. Paula hat sich daran gewöhnt, daß sich ihre Kunden im Grunde nicht anders verhalten als Küchenmaschinen, die aufgrund eines Kurzschlusses keine Stoptaste mehr haben und immer weiter rotieren, bis das Kabel durchgeschmort ist.

Privat ist Paula mit Maximilian liiert, der sein Geld erst als Tänzer verdiente und nun als Hausmeister mit Fensterputzservice arbeitet. Er sieht aus wie die fleischgewordene Werbung für ein Altern in Würde: immer noch muskulös, braungebrannt, freundlich und hilfsbereit. Wenn seine Freundin oben dazuverdient, sitzt er unten in seinem VW und wartet. Sollte es Probleme geben, was bislang niemals vorkam, würde er sofort einschreiten. Vorsichtshalber verkeilt er aber immer die Eingangstür bei Mietshäusern, bevor er seine wohl künftige Ehefrau eintreten läßt.

Schwierigkeiten, ja die gab es früher häufiger, erinnert sich Sandra. Mit ihren 44 Jahren ist sie aus dem Business draußen, aber die Anfänge des Internetficks hat sie noch mitbekommen und daran verdient. Damals glaubten Männer, das Internet sei ein gigantischer Selbstbedienungsladen für verhinderte Sadomeister und Zechpreller. Gerade so, als ob Frauen qua Geburt nur Nutten wären und es zu ihrer Natur gehörte, ohne Bezahlung ihren Körper impotenten Vorstadt-Casanovas zu überlassen. Deutsche und Migranten nahmen sich da gegenseitig nichts, alle mißratenen Penisträger des Universums schlossen sich zusammen, um ungehindert von Polizei und Ehefrauen die Sau rauszulassen. Prostitution wurde noch einmal das freie Jagdgebiet des Mannes, wie sie es schon um 1900 und dann in im Berlin der „Goldenen Zwanziger“ gewesen war. Gab es Probleme, war stets die Frau schuld. Doch als die Damen anfingen, entsprechende Typen im Internet bloßzustellen, mit Fotos und gegebenenfalls Autokennzeichen, als jeder Nachbar mit Modem und PC erkennen konnte, welcher Familienvater in Marzahn, Lichterfelde oder Dahlem wenig Anstand und einen mikroskopischen Wurmfortsatz zwischen den Beinen hatte, da war es mit der Prellerei rasch vorbei. Auch die Webmaster trugen ihren Teil dazu bei, daß schlagwütige Kunden außen vor blieben. Sie taten dies allerdings nur zögernd und erst, nachdem ein Betreiber damit angefangen und eine ganze Menge von Damen so auf seine Plattform gelockt hatte. Da mußten auch jene Anbieter nachziehen, die zuvor wortreich betont hatten, die „individuellen Bedürfnisse“ der männlichen Kundschaft nicht in Frage stellen zu wollen. Die Beratungsstellen für Prostituierte allerdings brauchten lange, bis sie das Potential des Internets erkannten: „Da waren die Hurenhasser und Frontstadtkadaver von der CDU schneller!“

Es hätten aber noch bis Ende der 1990er Jahre Diskussionen stattgefunden, wie das mit dem „Gummi“ zu handhaben sei. Und noch immer gebe es genügend junge Frauen, die das Geld dringend brauchten und bereit seien, die Kerle zumindest in den Mund abspritzen zu lassen. Der große „turning point“ aber, da ist sich Sandra absolut sicher, war die Einführung von Viagra. Vorher gab es selbst beim größten Macho noch etwas, was die Bezeichnung Vorspiel verdient hatte. Danach war es damit faktisch vorbei. Dafür ging es dann hinterher noch heftiger zur Sache, wenn das Prachtstück nicht in die Ruhigstellung zurückschrumpfen wollte.

Was sie von denjenigen halten, die Prostitution verwerflich finden, habe ich alle drei gefragt. Sandra grinste nur und meinte, daß die Typen, die am meisten dagegen aufträten, noch nie guten Sex in ihrem Leben hatten. Und die Weibchen, welche „gefallene Mädchen“ retten wollten, fürchteten nur, ihre Ehemänner würden fremdgehen, weil zu Hause höchstens das Kartoffelpüree gelinge, sonst aber nichts. Ach und ja, die autonome Frauenbewegung hatte sie in den 1980ern in Kreuzberg ebenfalls erlebt. Traurige Gestalten seien das gewesen, die behaupteten, die Welt retten zu wollen und selbst nicht in der Lage waren, andere oder auch nur das unterdrückte eigene Ich Selbstentfaltung erfahren zu lassen. Für sie war der Strich trotz aller Gefahren stets ein Stück Selbstbestimmung und Freiheit, die sie sich nahm, nie aber der Lebensinhalt. Schließlich arbeitet sie noch heute als Drogerieverkäuferin im betulichen Charlottenburg.

Bei Paula ist es anders, für sie stellt sich die Frage nach einer anderen Tätigkeit gar nicht. Arbeitslose Bürokauffrauen gibt es in Berlin genügend und mit 30 würde sie sowieso lieber ihren Max heiraten, Kinder kriegen, Hausfrau werden. Ganz normal eben sein. Und wenn Max zu einer Hure ginge? „Ach, wenn der ‘ne Professionelle will, braucht er doch nur nach dem Schatzi zu rufen.“ Aber natürlich, die Furcht ist latent, sie weiß, daß sie nicht jünger wird. Die Kinder will sie, um Max an sich zu binden, und fürchtet doch die Zeit der Schwangerschaft, wenn sie keinen Sex haben soll.

Für Lina stellt sich die Kinderfrage nicht. Sie ist eine gute Schülerin, aber eine Zukunft sieht sie für sich kaum. Ihre Mutter ging noch nach dem Abitur gleich zur Deutschen Bank und machte Karriere. Heute hangelt sie sich von einem Hilfsarbeiterjob zum nächsten. „Freigestellt“ nannte man das. Die Familie hat sich dann auch „diversifiziert“, ist zerbrochen, als sie 14 war. Schließlich rückt Lina mit der Sprache heraus: Daß sie manchmal nachts schweißgebadet aufwacht, sich fürchtet, sich irgendeine Krankheit – „Du weißt genau, welche!“ – einzuhandeln. Oder daß sie geschlagen wird. Doch sie nutzt das Geld, den Führerschein zu machen, für den Joint zwischendurch und die Woche Urlaub auf Ibiza. Studieren? Ja vielleicht. Oder zur Bundeswehr? Nein, dazu habe sie schon mit zu vielen ausgebrannten Offizieren gefickt, die trotz Viagra und Koks keinen mehr hoch bekamen, wenn ihnen die Bilder von der Front durch das vernebelte Cerebralsystem sausten. Die können genauso wenig abschalten wie die Huren von poppen.de. Dann noch lieber was richtig Brotloses studieren, Soziologie oder Byzantinistik. Sie sieht zuversichtlich aus. Da klingelt schon wieder das Handy. Mahmud. Ein Stammkunde, sehr zärtlich, zuvorkommend. Er hat schließlich zwei Ehefrauen in Neukölln und fünf Kinder. „Der weiß, was Frauen wollen“, seufzt Lina.