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Nacktsein ist unnormal


„Das Gremium der Vogue-Indizierung bestand aus drei Leuten: einer leitenden Regierungsdirektorin, einer Schriftstellerin (Thea Graumann) und einem kirchlichen Vertreter“, schrieb Johannes Glötzner in den 169. Mitteilungen der Humanistischen Union zum Verdikt der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften vom 2. Dezember 1999. „Und diese zeigen allein schon in ihrer Ausdrucksweise, wes Ungeistes Kind (Tucholsky) sie sind: Während von der abgebildeten schlafenden Anna gesagt wird, daß sie Unschuld und Unberührtheit vermittelt, heißt es von der gepuderten Anna, bei ihr werde Berührtheit demonstriert ... Eine Phantasie haben die Leute! Und sie machen diese und ihre zufällig vorhandenen geistigen Anschauungen zum Maß aller Dinge (Tucholsky).“ Den Aberwitz des damaligen Zensurbeschlusses erläutert Guido Keller

Grund der Indizierung waren sechs Farbfotos von einem fünf- und einem siebenjährigen Mädchen, beide Töchter des Fotografen. Das ältere Mädchen sei auf zwei Fotos nackt, auf zwei weiteren teilweise nackt. Tatsächlich kann man auf keinem Foto ihr Geschlechtsteil erkennen, ja sogar eine Brustwarze nur auf zweien davon. Im Urteil heißt es:

„Geeignet, sittlich zu gefährden, sind Medien, die nach menschlicher Erfahrung imstande sind, die gesunde sittliche Entwicklung von Menschen unter 18 Jahren zu beeinträchtigen. Dies ist dann anzunehmen, wenn zu befürchten ist, daß durch die Lektüre das sittliche Verhalten des Kindes oder Jugendlichen im Denken, Fühlen, Reden oder Handeln von den Normen des Erziehungszieles wesentlich abweicht. Das Erziehungsziel ist in unserer pluralistischen Gesellschaft vor allem dem Grundgesetz, insbesondere der Menschenwürde und den Grundrechten, aber auch den mit dem Grundgesetz übereinstimmenden pädagogischen Erkenntnissen und Wertmaßstäben, über die in der Gesellschaft Konsens besteht, zu entnehmen (vgl. Scholz, Jugendschutz, Anmerkung 2 zu §1 GjSM). Bei der Antwort auf die oben gestellte Frage stellt sich folgender Gefährdungsaspekt heraus: Die Darstellungen richten an Kinder und Jugendliche die Botschaft, für sich selbst in bestimmten Situationen eine Rolle als Anschauungsobjekt zu akzeptieren und auf die unbedingte Unverletzlichkeit der eigenen Menschenwürde zu verzichten.

Die Herabwürdigung der Altersgenossen zu Schauobjekten und die damit einhergehende Verletzung der Menschenwürde ist auch für Kinder und Jugendliche in ihrer Rolle als Rezipienten wahrnehmbar. Auf diese Weise tragen die Darstellungen zu einer Bewußtseins- und Überzeugungsbildung der Kinder bei, wonach es „normal“ und sozial adäquat ist, daß Kinder die Rolle beliebig verfügbarer Anschauungsobjekte übernehmen. Dem kindlichen Betrachter wird suggeriert, daß es völlig normal sei, sich vor Erwachsenen in ungezwungener Pose nackt zu zeigen und ablichten zu lassen. Nach belegbaren Erkenntnissen von Kriminalbehörden stimmen aber Sexualstraftäter ihre Opfer gezielt auf die Tat ein, auch indem sie Kindern solche Fotos zeigen und testen, wie diese darauf reagieren. Sie wollen die Kinder ‘einstimmen’ und feststellen, ob sie leichte Opfer sind – und darin liegt die Gefährdung für Kinder und Jugendliche. Diese Gefährdung wird auch deutlich, insbesondere durch das Zitat von George Bernard Shaw: ‘Kleine Jungen sind kleine Jungen. Ein Mädchen wird immer schon als Frau geboren.’

Aus der Tätigkeit der Hilfs- und Beratungseinrichtungen, die sich der Hilfe für sexuell mißbrauchte Kinder widmen, ist bekannt, wie wichtig es für den Bereich der Prävention ist, daß Kinder sich darüber im klaren sind, wo an sie gerichtete Wünsche von Erwachsenen eine Tabuverletzung darstellen und sie berechtigt sind, sich diesen Wünschen zu widersetzen. Den Bemühungen, Kinder stark zu machen und zu befähigen, ihre Rechtssphäre vor strafrechtlich relevanten Übergriffen von Erwachsenen zu schützen, laufen die mit den Darstellungen vermittelten Botschaften konträr zuwider.

Damit ist hinsichtlich des Gefährdungsaspektes festzuhalten: Medien, die ein ernst zu nehmendes Risiko begründen, daß Kinder und Jugendliche in ihren Möglichkeiten beeinträchtigt werden, sich gegenüber sexuellen Übergriffen von Erwachsenen deshalb zu wehren, weil sie das Selbstwertgefühl der Kinder beeinträchtigen, ein verfälschtes Bild von dem, was der Normalität im Umgang zwischen Kindern und Erwachsenen entspricht, vermitteln und über die Grenzen des Selbstbestimmungsrechts der Kinder täuschen, sind geeignet, Kinder und Jugendliche im Sinne des §1 Abs. 1GjSM sittlich zu gefährden. Deshalb ist hier eine Jugendgefährdung – in Übereinstimmung mit der Spruchpraxis der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften – zu bejahen.“

Hieraus folgt: 1) Ein Kind oder Jugendlicher sei dann sozial-ethisch desorientiert, wenn es oder er sich nackt ablichten läßt, dies komme dem Verlust der Menschenwürde gleich. Demzufolge würden auch Erwachsene ihre Menschenwürde verlieren, die sich nackt abbilden lassen. 2) Der Ausdruck „Herabwürdigung von Altersgenossen“ impliziert, daß die Leserschaft von Vogue aus Fünf- und Siebenjährigen besteht. Im folgenden wird klar, was wirklich gemeint ist: Aus angeblich „belegbaren“ Erkenntnissen der Kriminalbehörden könne man schließen, daß Aufnahmen wie die in Vogue zum Einstimmen der Kinder auf die „Tat“ von „Sexualstraftätern“ benutzt würden. Worauf sie einstimmen sollen, wird nicht gesagt. Einstimmen auf das Herstellen von Fotos wäre nämlich nicht weiter von Belang; Nacktaufnahmen von Kindern, in denen das Geschlechtsteil nicht im Vordergrund steht, waren 1999 keineswegs strafbar. 3) Durch den Verweis auf die „Tätigkeit der Hilfs- und Beratungseinrichtungen, die sich der Hilfe für sexuell mißbrauchte Kinder widmen“, wird der Zusammenhang von deren subjektiven Erkenntnissen mit der Spruchpraxis der Bundesprüfstelle explizit zugegeben.

Die Anfrage des Autors bei deren Leiterin nach wissenschaftlichen Quellen für die Desorientierung Jugendlicher durch das Anschauen von Nacktdarstellungen jeglicher Art (in denen keine Gewalt vorkommt) konnte Frau Monssen-Engberding nicht mit Literaturhinweisen beantworten. Tatsächlich legen wissenschaftliche Erkenntnisse zur Wirkung (selbst tatsächlicher) Pornographie nahe, daß sie Gewalttätigkeiten und sexuellen Mißbrauch von Kindern reduzieren, also auch kaum imstande sein dürften, diese sittlich zu verrohen.