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Nach Kassenlage

Das Datum 18. Juni 2004 wird man sich merken müssen. An jenem Freitag trug die Koalition in zweiter und dritter Lesung ihr Projekt einer bundeseigenen Magnus-Hirschfeld-Stiftung zu Grabe. Den Gesetzentwurf dazu hatte sie am 4. Juni 2002 ohne vorherige Bekanntgabe oder gar öffentliche Diskussion in den Bundestag eingebracht. Der folgende allgemeine Aufschrei der Empörung galt jedoch nicht dem Skandal, daß mit den vorgesehenen 15 Millionen Euro die legitimen Ansprüche individueller NS-Opfer kollektiviert werden und auf heutige Organisationen nie verfolgter Homosexueller übergehen sollten, sondern ausschließlich der geplanten Kuratoriumsbesetzung, die eine klare Dominanz des regierungsnahen Spektrums vorsah. Folge war, daß der Bundesrat das Gesetz am 27. September 2002 per Anrufung des Vermittlungsausschusses stoppte. Am Ende eines die Opfer entwürdigenden parlamentarischen Gezerres brachte die FDP das Erbschleichergesetz leicht verändert, aber konzeptionell ebenso skandalös, dieses Frühjahr erneut ein.

Wohlweislich mußte nicht Volker Beck, dem mit der Stiftung hatte „ein Denkmal gesetzt werden“ sollen (Roger Kusch/CDU im Bundesrat), sondern Irmingard Schewe-Gerigk, Parlamentarische Geschäftsführerin und Frauenpolitische Grünen-Sprecherin, das Nein der Koalition erklären: „Die aktuelle Haushaltslage stellt uns leider vor die Situation, daß nicht alles Wünschenswerte (!) auch gleichzeitig machbar ist. Von daher müssen Prioritäten gesetzt werden. Im Hinblick auf eine mögliche Stiftung, die einen kollektiven Ausgleich für die Gruppe der Homosexuellen darstellen soll, muß daher zuerst das Verhältnis geklärt werden zur individuellen Entschädigung heute noch lebender NS-Opfer. Es sieht so aus, daß derzeit aus dem Bundeshaushalt nicht beides gleichzeitig zu haben ist – Maßnahmen zur Verbesserung der individuellen Entschädigung und ein kollektiver Ausgleich. Wir sehen eine moralische Verpflichtung, jetzt noch mögliche Hilfen für überlebende Opfer des Nationalsozialismus vorrangig zu behandeln.“

Daß die Grüne just das Argument aufgriff, das seinerzeit allein das wissenschaftlich-humanitäre komitee (whk) wider das Stiftungskonzept ins Feld führte, bezeugt keine späte Einsicht in die mindesten Pflichten des NS-Rechtsnachfolgers, sondern ekelhaften Zynismus: Nach zwei weiteren Jahren, in denen weitere Anspruchsberechtigte verstorben sind und nun selbst die zweite Enteignung der Inhaber einer zerschlagenen homosexuellen Subkultur zugunsten der eigenen Klientel der Kassenlage abträglich ist, benutzt man erneut die Überlebenden, um edelmütig dazustehen, und spielt sie dabei noch gegeneinander aus: Es gehe „um die Gruppe der ‘Euthanasie’-Geschädigten und es geht auch um die heute noch lebenden Menschen, die im Nationalsozialismus wegen ihrer Homosexualität verfolgt wurden“. Je mehr von diesen man der biologischen Lösung der Entschädigungsfrage zuführt, desto segensreicher für den Etat. Moralisch ganz unten, hat Rot-Grün auf Zeit gespielt. – Auf Lebenszeit.

Eike Stedefeldt