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Wenn du das verstehst

Vor 60 Jahren erschien „Geständnis einer Maske“ von Yukio Mishima. Ein persönliches Andenken von Sebastian Bubner

Ich habe einmal über Yukio Mishima geschrieben, in einer Abhandlung über „schwule“ Anatomie, und darüber habe ich dann einen Vortrag gehalten. Der befreundete Student, der die Vortragsreihe organisiert hatte, warf mir vor, ich hätte nur deshalb über Mishima geschrieben, weil mir das Buch gerade über den Weg gelaufen sei. Nein, jenes Buch ist mir nicht „über den Weg gelaufen“. Es war Begegnung und Freundschaft – nicht auf den ersten Blick, sondern nach einer nicht wenig mühseligen, aber lohnenden Lektüre. Die Begegnung mit Mishimas Prosawerk „Geständnis einer Maske“ war ein Leseerlebnis besonderer Art. Selten hat mich ein Buch mehr angerührt. Nie habe ich einen Schwulenroman gelesen, der mir ehrlicher erschienen wäre. Mishima hat, und das erkenne ich nach wieder aufgegriffener Lektüre, schon immer für mich geschrieben, nur für mich. Das ist eine gefährliche Formulierung. Ich meine sie nicht im albern Vorrechte anmeldenden Sinn einer Number-One-Fan-Attitüde. Mishima, dieser Autor, wiegt mich in Schlaf. Er sitzt mit einer Lampe an meinem Bett. Er kann meinen Herzschlag verlangsamen und Ängste zerstreuen. Er redet zu mir, privat, wie ein freundlicher Gesprächspartner, ein Mir-Gegenüber, in einer Weise, die mir zuvor nur bei Kafka begegnet ist. Mishima ist aber freundlicher, intimer, humaner. Er ist nicht nur freundlich, sondern ein Freund. Ich bin sicher, er hat sich seine Bücher selbst zugeschrieben, im Streben nach genau dem beruhigend-tröstenden Effekt, den sie auf mich haben. Mishima haben all die Themen interessiert, die mich umtreiben: Schönheit und Wahrheit, die Größe und Sinnfreiheit der Epoche, innerhalb der wir nur Krümel sind, unser freier Wille, ein Rostfleck auf der Kette aus Ursache und Wirkung, Sexualität als Schuld und Angst, die immense Sogkraft eines jeden Gartens, Sensibilität im Umgang, ein Auge fürs soziale Detail – eine Blickrichtung, für die ich Mishimas Werk heute noch mehr bewundere als früher. (Früher war ich so jung, daß ich Mishimas Umsicht und Behutsamkeit in der Beschreibung nicht so sehr wissend wahrnahm, sondern diese wohl subkutan spürte; so etwa, wie man in einem Haus Gastfreundschaft spürt.)

Dieser Autor hat die Epik des 19. Jahrhunderts ins 20. Jahrhundert verpflanzt. Er hat die große Kraft des Japaners, das Banale und Gegenständliche mit der Vornehmheit eines großen Realisten auszudrücken. Er hat, auch dies eine im 19. Jahrhundert verlorengegangene Kunst, rednerisches Erbarmen. Gleichzeitg ist er sehr modern. Ihn ängstigen menschliche Entwicklungen, die uns jetzt erst im Alltag erreichen. (Doch auch das Erbarmen ist modern, wir müssen es nur erst wieder lernen.) Mishima ist postmodern, ihn nicht zu lesen wird immer die Schuld derer sein, die meinen, ihn unterlassen zu können. Man überhört Mishima, wie man den Stopschrei überhört eines ungeheuer arbeitsamen Mahners, eines Arbeiters in Sachen Redlichkeit und Sensibilität. Und dann fährt man gegen eine Wand. Reihenweise fahren diejenigen gegen die Wand, die nicht in die Schule seiner Romane gegangen sind.

Für mich besteht ein direkter Zusammenhang zwischen dem Zustand unserer Welt und ihrem Desinteresse an Yukio Mishima. Ich hatte neulich sogar diese Idee: Wenn mich jemand fragte, was ich denn dächte, wie ich denn drauf sei, 10 Cent für meine Gedanken – ich würde ihm „Das Meer der Fruchtbarkeit“ in die Hand drücken, alle vier Bände, und ich würde sagen: Wenn du das verstehst, dann verstehst du mich. Wenn dich das berührt, dann sind wir Freunde. Ein Rufer ist Mishima, einer der Sorte, die sich selbst zu retten nicht in der Lage waren. Das macht ihn mir nur menschlicher. Sehe ich das Foto mit seinem abgeschlagenen Kopf (ein trauriges Foto, sehr jämmerlich) dann ist mir fast nach einer körperlichen Geste zumute: Ich gebe ihm das Erbarmen zurück mit ausgestreckter Hand, das Verstehen und die Geduld, die er mir an langen Leseabenden zukommen läßt. Yukio Mishima. Requiescat in Pace. Nein, nicht „er möge“. Es ist klar, daß er in Frieden ruht.