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Massenbewegung

Bei leerer Urlaubskasse ist man mit seiner Sehnsucht nach dem leichten Flair mediterraner Gefilde im Berlin-Kreuzberger Sommer noch am besten aufgehoben. – Was so recht sich erst in den lauen Stunden zwischen schwülen Tagen erweist. Wie ein Reisender ohne Gepäck, luftig in Sandalen, Shorts und Polohemd, schlendert’s sich herrlich nächtliche Boulevards, Höfe und Parkwege entlang, vorbei am Trubel der Eisdielen, Restaurants, Kneipen und Cafés. Man nippt, um entspannt Leute und Fassaden zu gucken, hier am Espresso, dort am Imiglykos, flirtet ungeniert mit entgegenkommenden Fremden oder beim Hefeweizen mit dem Brezelverkäufer. Was könnte unter all den Fern- und Lokalreisenden, Alteingesessenen und Zugezogenen einem weniger fehlen als die Ferne; wo die große weite Welt zu einem nach Hause kommt mit all ihren Düften, wo sie schmecken, hören, sehen läßt, was immer sie zu bieten hat. Das ist das Glück.

Auf solchen Streifzügen genießt der Einheimische den Vorteil, nicht nur das Jetzt, sondern die Veränderung zu entdecken, besonders abseits der Touristenmeilen. Da steht man dann womöglich, wie unlängst wir, bei Vollmond kurz vorm Südstern vor einer offenen Türe, aus der warmes rotes Licht und leise exotische Klänge aufs Trottoir dringen. Ein kurzer Blick hinein: Die Tresenkraft, schwarzhaarig und mit Kinnbärtchen, lächelt ein Lächeln, das uns unweigerlich hereinbittet, und ein halbmeterhoher, geschwungener Buchstabe neben dem Eingang des Hauses Gneisenaustraße 57 bescheidet uns, daß wir das Lokal „L“ betreten.

Wohl die ersten Gäste an diesem Abend, nehmen wir zunächst im halbdunklen Gastraum linkerhand zwischen schweren goldnen Brokatkissen auf rotenbezogenen Diwanen Platz. Für seine Größe ist er spärlich möbliert, aber vielleicht wirkt das bloß so, weil die Decken höher und schwarz, die Tische niedriger als gewohnt sind und Spiegel ihn optisch weiten. Bunte Teppiche an den violetten Wänden mögen morgenländische Epen zitieren oder einfach nur schön sein; allemal sorgen sie für Gemütlichkeit. Trotzdem ziehen wir mit unsrem Gin Tonic auf hohe Drehhocker um und erfahren an der Bar: Uns bedient Ali Diyar Tümen, und die Orient Lounge „L“ wurde erst am 4. Juni eröffnet. Inhaber ist Ali Diyars aus dem südanatolischen Gölbasi stammender deutscher Partner Ali Bagit, den er 1997 im Tiergarten kennenlernte. „Wir haben lange nach diesen Räumen gesucht.“

Als eines von zehn Geschwistern im nahe der syrischen Grenze liegenden Euphrat-Städtchen Birecik geboren – auf Kurdisch nennt man es Bêrecûg – lebt Diyar, der nie eine Schule besucht und sich das Lesen und Schreiben selbst beigebracht hat, seit dreizehn Jahren in Berlin, unweit der Kreuzberger Prinzenstraße. „Als Kurde mußte ich aus politischen Gründen fliehen. Mehrmals war ich vom türkischen Militär verhaftet worden und mußte weg. Deutschland war mir sympathisch.“ Die Ehe mit einer Deutschen ging er ebenso der Not gehorchend ein. „Bei uns mußt du, wenn du 17 oder 18 bist, heiraten und bestätigen, daß du ein Mann bist. So auch ich; drei Jahre lebten wir zusammen.“ Mehr weiß zu Hause niemand. Als wir uns verabschieden, ruft er uns nach: „Jeden zweiten und vierten Sonnabend ist ab 23 Uhr Bauchtanz.“

Erneut zeitig dran, sind wir diesmal dennoch nicht die ersten Besucher. Da der Showbeginn sich verzögert und gerade ein schrilles Fünfergrüppchen hereingerauscht ist, spielen wir lustiges Geschlechterlotto. Ein Langhaarwesen, dem der Hosenbund bestimmt schmerzhaft in den Achseln kneift, wirkt wie das orientalische Echo auf die Frontfrau des Popduos „Modern Talking“. Allerdings trug Dieter Bohlens Mitwirkende damals keinen angemalten Henriquatre, heute allgemein „Arschlochbart“ genannt. Das wird doch nicht die Tänzerin sein? Oder sollte die nervöse, wohlgenährte Blondine mit dem hochgesteckten Schopf die Hüften schwingen? Zwei burschikose Jeansfrauen drüben auf dem Diwan können jedenfalls nicht das Programm sein.

Ali Bagit persönlich kündigt kurz nach Mitternacht, zuerst auf Deutsch, Sabuha Salaam an. Besagte Künstlerin behaupte, die Schwester von Claudia Schiffer zu sein. Die folgende türkische Version ist länger und offenbar etwas informativer; wir meinen Vertrautes herauszuhören wie „Adana“, „Merkel“ und „Bordell“. Als endlich die Musik einsetzt, lüftet tatsächlich die jetzt barfüßige, in einen Traum aus rosa Tüll und Goldfransen gehüllte Blondine ihren Schleier. Eine Viertelstunde lang rotieren Polster und Hände zwischen den Tischen. Alles klatscht begeistert im Takt: welch Zauber, welche Eleganz!

Als „multikulturell, multisexuell“ hat Diyar das Konzept des „L“ bezeichnet. Nur einmal gab’s bisher Schwierigkeiten: „Ein deutscher Nachbar beschwerte sich bei der Hausverwaltung, dies sei ein Männerpuff, eine Peep-Show.“ – Weder noch. „L“ steht einfach nur für „Lubunya“, das bedeutet soviel wie „Schwuchtel“.

Eike Stedefeldt