Lesen
ist schwul
Jungen lesen schlechter,
weniger und weniger gern als Mädchen. Diese Tatsache wird immer mal wieder
erforscht, immer mal wieder vermeldet und immer mal wieder ein bißchen
beredet. Aber ein echter Skandal wird nie daraus. Warum eigentlich nicht?
Ist es denn so, daß man in dieser Gesellschaft allseits ganz zufrieden
damit ist, daß die geschlechtsspezifische Erziehung auch und gerade
in Bildungsdingen im großen und ganzen nach wie vor tadellos funktioniert?
Von Stefan Broniowski
Ginge es um die Benachteiligung von Mädchen, wäre die Aufregung
bei weitem größer und anhaltender, man würde das Problem nicht
nur beiläufig im Kulturteil erwähnen, sondern auf allem Kanälen
bis zur Erschöpfung jedes medialen Interesses durchdiskutieren. Könnten
Mädchen schlechter lesen als Jungs und täten sie es auch weniger
oft und gern als diese, gälte das als gesellschaftlicher Mißstand
erster Ordnung, der einfach nicht hingenommen werden dürfe. Man würde
Abhilfe nicht nur erhoffen, sondern ultimativ fordern und rasch schaffen.
Millionenschwere Programme würden aufgelegt, um das unerträgliche
Übel mit allen nur denkbaren Mitteln anzugehen und zu beseitigen. Und
innerhalb weniger Jahre würde man das Problem vollständig erledigt
haben wollen. Aber geht es ja bloß um Jungs ...
Das Problem ist allerdings nur allzu bekannt: Alle empirischen Untersuchungen
der letzten Jahrzehnte zum geschlechtsspezifischen Leseverhalten stellten
beträchtliche Unterschiede fest. Das betrifft erstens die Lesequantität
und die Leseintensität: Mädchen und Frauen lesen mehr als Jungen
und Männer; zweitens die Lesestoffe und Leseweisen: Mädchen und
Frauen lesen anderes und anders als Jungen und Männer; und drittens schließlich
die Lesefreude oder Leseneigung: Mädchen und Frauen bedeutet das Lesen
mehr als Jungen und Männern. Als gesichert gilt dabei, daß diese
Unterschiede bereits am Ende des Grundschulalters (also nach vier Schuljahren)
deutlich ausgeprägt sind. Psychologische Untersuchungen legen nahe, daß
es Mädchen leichter fällt, sich lesend in die Erfahrung anderer
Menschen einzuleben, weshalb sie stärker von einem Deutschunterricht,
der auf fiktionale Texte konzentriert ist, profitieren können, während
die Leseinteressen der Jungen, die sich eher auf Sachbücher und Wort
und Bild integrierende Textformen (Comics) richten, fast vollständig
ignoriert werden.
Das alles weiß man also seit langem. Auch sie PISA-Studie 2000 kam
bekanntlich zum Ergebnis, daß in allen Teilnehmerstaaten die Mädchen
im Lesen signifikant höhere Testwerte als die Jungen erreichten (in Deutschland
entspräche der Leistungsvorsprung ungefähr einer halben Kompetenzstufe).
In der Mehrzahl der Teilnehmerländer sei zudem die Einstellung der Jungen
zum Lesen deutlich negativer als die der Mädchen. Im OECD-Durchschnitt
stimmten insgesamt etwa 46 Prozent der Jungen der Aussage zu, daß sie
nur lesen, wenn sie müssen, während dies nur 26 Prozent der Mädchen
von sich behaupteten (Deutschland: Mädchen 26, Jungen sogar 52 %). Gäben
ferner im Durchschnitt 45 Prozent der Mädchen Lesen als eins ihrer liebsten
Hobbys an, sagten das nur 25 Prozent der Jungen (Deutschland 41 und 17%).
In Deutschland gäben 55 Prozent der Jungen an, überhaupt nicht zum
Vergnügen zu lesen (OECD-Mittelwert: 40 %), während der Anteil der
Mädchen bei 29 Prozent liege (OECD-Mittelwert: 23 %).
Ein einziges Frauending
Die geschlechtspezifische Asymmetrie bei Lesekompetenz und Leselust war also
kein brandneues Thema mehr, als im März 2006 am Rande der Leipziger Buchmesse
von der Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen, dem Börsenverein
des Deutschen Buchhandels und der Stiftung Lesen der Trendbericht Kinder-
und Jugendbuch 2006 vorgestellt wurde. Auch hier ging man deshalb zwar
zunächst von der alten Einsicht aus, daß Jungen schlechter und
weniger lesen als Mädchen, doch: Daß Jungen gar nicht lesen,
ist ein Mythos, erklärte bei der Pressekonferenz Prof. Dr. Stefan
Aufenanger, Wissenschaftlicher Direktor der Stiftung Lesen. Auch Jungen läsen,
aber eben anders als Mädchen. Dies müsse in der Leseförderung
berücksichtigt werden. Entscheidend sei, daß Jungen bei der Auswahl
ihrer Medien andere Kriterien haben als Mädchen. Sie achten viel
mehr auf das Thema als auf die Story, bevor sie ein Buch in ihren Medien-Mix
einbeziehen, so Aufenanger. Für Jungen sei das Lesen auch eine
Frage des Images: Das Thema eines Buches muß auch bei den Kumpels gut
ankommen. Es sollte nicht uncool sein, mit dem betreffenden Buch in
der Hand gesehen zu werden.
Was aber finden Jungs denn cool? Thema Nr. 1 bei Jungen ist nicht Technik,
auch nicht Fußball oder Action, ergänzte Klaus Willberg,
Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen, Aufenangers Ausführungen,
sondern Sex. Darauf wird zu wenig eingegangen. Es ist einfacher, pubertierende
Jungen als Nichtleser zu stigmatisieren, als sich mit Büchern ihrer tatsächlichen
Lebenswelt zu stellen. Dies zeige sowohl die Durchsicht der Programme
der deutschen Kinder- und Jugendbuchverlage wie die unzureichende Vermittlung
jungenspezifischer Belletristik. Diese wird ganz objektiv gesehen
von der Lektorin bis zur Bibliothekarin von Frauen dominiert. Frauen
bestimmen, was Männer lesen sollen, so Willberg.
Solche Einsichten bestätigte übrigens auf seine Weise auch der
Kinder- und Jugendbuchautor Christian Bieniek, als er im Vorfeld der Leipziger
Büchermesse von mdr.de interviewt wurde. Frage: Jungen lesen weniger
als Mädchen. Wie können Jungen dazu motiviert werden? Antwort:
Es ist schon immer so gewesen und wird immer so bleiben. Dieses Kinder-
und Jugendbuchding ist ein einziges Frauending. Und genau darum bin ich so
gern dabei. Ich hatte noch nie mit einem männlichen Lektor zu tun. Wenn
ich auf Lesereise gehe, sehe ich nur Frauen: Bibliothekarinnen, Buchhändlerinnen,
Deutschlehrerinnen, gelegentlich mal ein Mann, und der entschuldigt sich noch
und meint: Ich wollte nur meine Frau abholen! Da ist es doch kein
Wunder, daß Jungs es da schwer haben, einen Zugang zu finden. Die andere
Sache ist die: Wenn ich als Junge in einen Buchladen gehe, klappe ein Buch
auf und da steht: Nur für Mädchen oder Freche
Mädchen oder Nix für Jungs, so heißen ja
diese ganze Reihen, da würde ich sagen: Das ist nichts für
mich! Frauen entscheiden über solche Sachen. Außerdem herrscht
in Kinderbüchern ein von Deutschlehrerinnen geprägtes Frauenbild
vor, weil die meisten Autorinnen ehemalige Lehrerinnen sind.
Ich möchte das nicht hören
Mit ganz ähnlichen Gedanken, nur kritisch gewendet, sorgte (einem taz-Bericht
Christian Füllers zufolge) Ende August beim Berliner Kongreß Eine
Schule für Mädchen und Jungen Stefan Wendel beim überwiegend
weiblichen Publikum für Unruhe. Wir haben die Jungen in der Vergangenheit
sträflich vernachlässigt, verkündete der Jugendbuchlektor
des Thienemann Verlags und forderte, reine Jungs-Lese-Ecken einzurichten.
In Buchhandlungen, Bibliotheken, sogar Schulen solle es Areale ausschließlich
für junge Männer geben, räumlich getrennt von denen für
Mädchen. Die Auswahl der Texte dort solle ohne Rücksicht auf
die Lesebedürfnisse von Mädchen erfolgen. Wendel zufolge benachteiligten
die vielen Frauen in der Literaturvermittlung die Jungen nicht absichtlich.
Sie nähmen nur die unterschiedlichen Verkehrsformen, die variierenden
Lesebedürfnisse, das andere Geschlecht als solches einfach nicht wahr.
Unterdrückung von Jungs gebe es, wenn überhaupt, dann nur durch
eine Art Nichtbeachtung. Frauen gibt es in der Szene der Buchhändlerinnen,
Lektorinnen und Lehrerinnen, so weit das Auge reicht.
Beim Kongreß selbst übrigens wurde, so der Berichterstatter, exemplarisch
vorgeführt, wie die unbestrittene Majorität, die Frauen in Bildungseinrichtungen
nun mal haben, mit Jungs im Prinzip umgeht. Sie weist sie zurecht, bringt
sie zur Ruhe. (...) Ich möchte das nicht hören, schnitt
eine empörte Konferenzteilnehmerin Wendel beispielhaft das Wort ab. Dabei
hatte der nur gesagt, Sexualität sollte für junge Männer auch
ein literarisches Thema sein, das dürfe man nicht verleugnen. (...) Die
Literaturvermittlerinnen, gab Wendel kühl zurück, wollen sich
frei nach Pippi Langstrumpf die Welt erschaffen, wie sie sein soll, wie sie
in der Wirklichkeit aber nicht ist.
Aber keine Angst, es ist schon alles so, wie es sein soll. Richtige Jungs
sind frech, rüpelhaft, ungebildet und ein bißchen blöde. Ihre
größte, ja vielleicht einzige Sorge ist es, cool zu sein. Und was
ist bekanntlich das jugendsprachliche Gegenteil von cool? Schwul natürlich.
Und das will man als Junge auf keinen Fall sein. Wenn Lesen also nicht cool
ist ...
Nun jammern Mütter, Lehrerinnen, Buchhändlerinnen und Bibliothekarinnen
zwar viel und gern, das Jungs zu wenig oder gar nichts läsen, aber gerade
ihr Jammern ist Teil des Problems und keineswegs Teil seiner Lösung.
Es ist einfach eine Variante ihrer geschlechtsspezifische Rolle. Frauen kommt
es bekanntlich zu, Männer für unsensibel, gefühlsarm, zurückgeblieben,
roh, einfallslos und von wenigen, primitiven Bedürfnissen gesteuert zu
halten und sich selbst für deren Opfer. Männer hingegen sollen
bekanntlich vor allem eines sein wollen: keine Frauen.
Männlichkeit und Weiblichkeit sind eben keine biologischen Fakten, sondern soziale Normen, die die Geschlechter voneinander lernen. Es ist nicht so, daß Jungs ihre (aus weiblicher Sicht) Unarten bloß von anderen Jungs übertragen bekämen. Gerade die Vorherrschaft von Frauen in der Erziehung ist es, die die üblichen Männer heranbildet. Die Grundregel fürs Mannwerden lautet: Bloß nicht so sein wie sie und just dadurch, daß man Mutti (und alle anderen Weiber) damit treffsicher provoziert, gerade doch wieder deren Vorstellungen erfüllen! Das gilt allgemein und nicht zuletzt auch bei der Lektüre. Indem Lesen zu etwas Unjungenhaftem gemacht wird übrigens auch (aber nicht nur) dadurch, daß es keine Jungenbücher geben darf, in denen gewichst und Anlaß zum Wichsen gegeben wird , werden Jungs systematisch davon ausgeschlossen, sich und einander zu verstehen und die Geschlechterverhältnisse, denen sie unterworfen sind, zu durchschauen. Der Junge, der ein Mann werden will, muß sich überzeugen lassen, daß er lieber cool sein will als genußfähig und gefühlsstark. Die falsche Lektüre brächte ihn da bloß auf falsche Gedanken.