Erstens
kommt es anders ...
Wo
es langgeht, wie die Sexualverhältnisse der Zukunft aussehen können
uns das denn nicht die Wissenschaftler sagen? Allzu gern entziehen sie sich
der Verantwortung, spielen den Ball zurück, trauen sich allenfalls eine
informierte Spekulation zu. Oder liefern uns einen Katalog möglicher
Prognosen wie der Soziologe Rüdiger Lautmann
Sex in dreißig Jahren?
Komische Frage! Die Zeitspanne dehnt sich über weit mehr als eine einzige
Generation, denn schnell wandeln sich heute die Sitten. Und wie war es denn
vor dreißig Jahren? Damals, auf dem Höhepunkt der Permissivität,
hätte sich kaum jemand träumen lassen, welche erneuten Repressionen
auf das Sexualleben zukommen würden. Doch schon bald danach begann die
Schraube sich zurück zu drehen, und heute haben wir einen so heftigen
Ausstoß an neuen Sexualstrafgesetzen, daß die gesamte Systematik
des Strafgesetzbuchs durcheinander geraten ist.(1) Darob hat die Bundesregierung
eine Neufassung angedroht selbstredend ein Anlaß für weitere
Verschärfungen. Welche Zukunft rollt da auf uns zu?
Prognosen sind eine wohlfeile
Sache: Wer schon wird uns in dreißig Jahren dafür zur Rede stellen?
Sie sind auch wissenschaftlich seriös kaum möglich, denn es fehlen
verläßliche Theorien über die Entwicklung der sexuellen Verhältnisse.
Der große Soziologe Norbert Elias (1897-1990) hatte im Prozeß
der Zivilisation aus sechs Jahrhunderten europäischer Geschichte
abgeleitet, die formale Gesittung der Menschen nehme stetig zu, Triebimpulse
würden durch Selbstzwänge kontrolliert, offene Gewalt nehme ab.(2)
Aber vor siebzig Jahren wußte er nicht, was mit dem Holocaust dem zivilisierten
Abendland bevorstand, und später brachte die sexuelle Emanzipation seine
Theorie in Schwierigkeiten. Vielleicht auch deshalb nahm Elias das Geheimnis
seines Schwulseins mit ins Grab.
Also: Vorsicht mit Vorhersagen!
Die maßgebenden Neuerungen der vergangenen Jahrzehnte wurden nicht vorausgesehen:
das Erstarken des Feminismus sowie der Wandel des schwulen und lesbischen
Lebens. Genau das, was heute allgemein als die wesentlichsten Ereignisse des
sexualkulturellen Wandels angesehen wird, ist nicht erwartet worden. Immerhin
gilt: Alles ist möglich, aber wenig kann als wahrscheinlich eintretend
vorhergesagt werden. Zwei Sorten von Prognosen finden leicht Gehör: die
katastrophale (alles wird immer schlimmer) und die freundliche
(alles wird gut). Eintreffen dürfte keine davon. Die Kompaßnadel
bewegt sich zwischen einer verschwindenden und einer idealen Sexualität,
und zuletzt zittert sie irgendwo zwischen diesen Polen.
Das Sexuelle widersetzt
sich jeder simplen Verallgemeinerung und jeder Einheitsform. Im Reich der
Leidenschaften ist das meiste unberechenbar und wird es weiterhin sein. Steuerungsversuche
prallen ab; sie schaffen Leid. Die besonderen Sexualformen finden
meistens ihre Nische im Verborgenen. Einigen davon setzen die Hexenjäger
aber auch im Abseits noch nach.
Vieles am Sexuellen bleibt
sich gleich; es ist vor allem die Oberfläche, die sich ändert
wie darüber gedacht und geredet wird. So scheint das gleichgeschlechtliche
Begehren unter Männern oder unter Frauen heute gesellschaftlich etabliert
zu sein; dennoch ruht die Homophobie auf einem stabilen Sockel, so tolerant
man sich äußerlich auch gibt. Deswegen kann es nicht stimmen, wenn
Reimut Reiche prognostiziert: In naher Zukunft wird man kulturell keine
großen Unterschiede mehr zwischen Homo- und Heterosexuellen machen.(3)
Das ist einfach zu schön, um wahr zu werden.
Gegenüber allen weitgreifenden
Vorhersagen ist Skepsis angebracht. Wir wissen ja schon wenig genug über
den aktuellen Sex. Vermutungen und Befürchtungen, medienwirksam und politisch
mißbraucht, bestimmen die gesellschaftliche Thematisierung. Betrachten
wir nun eine Reihe möglicher Prognosen auf ihren Wunschcharakter und
Wahrheitsgehalt. Da gibt es mittelfristige Prognosen gerechnet auf
die halbe Zeitstrecke , die noch Kontakt zur Empirie haben:
Es wird (historisch: erneut) versucht werden, das Wissen über
Geschlecht und Sexualitäten vollständig zu biologisieren.
Permissivität und Liberalisierung, die
Kennzeichen der vergangenen Sexualpolitik, werden zu Schimpfworten. Kommunitaristische
Ideen dringen vor.
Die Medien durchdringen immer weiter die Intimität.
Die sexuell aktiven Altersgruppen werden erheblich von Menschen (Männern)
mit Migrationshintergrund bestimmt sein. Die Diversität der Sexualkultur
steigt an. Dies wird Toleranz erfordern, aber nicht automatisch hervorbringen.
Konflikte um die richtige Sexualität werden also zunehmen.
Mit nüchternem Blick
auf die sexuelle Landschaft der Gegenwart wird man ferner sagen dürfen(4):
Eine Wiederholung der sexuellen Revolutionen steht nicht
zu erwarten, wohl aber ein fortlaufender soziosexueller Wandel.
Die Bevölkerung wird einer Sexualpolitik müde werden, die
durch Skandal, Moralpanik und vielleicht einen Kulturkrieg aufgeheizt ist.
Man wird versuchen, das Sexualregime stärker an das Gemeinwohl
anzubinden.
Die Fragen der Sexualautonomie und Selbstbestimmung werden sich auf
der Agenda halten, weil und solange der neoliberale Wind in die Segel von
Wirtschaft und Politik bläst.
Hoffnungen auf einen allgemeinen
Fortschritt, eine moralische Erneuerung oder konkrete Utopien werden in einigen
Zirkeln gehegt. Optimistische Szenarios versuchen sich an positiven Utopien,
ein besonders riskantes Denkunternehmen. Hoffnungsvolle Prognosen träumen
von:
Individuation und Selbstreflexivität;
Demokratisierung des Personseins und Ethos der Pluralisierung;
postidentitären Möglichkeiten jenseits von Geschlechterbinarismus
und Heteronormativität.
Beispielsweise entwirft
der schwule und auch in feministischen Kreisen gelesene Bob Connell ein
Projekt der sozialen Gerechtigkeit in den Geschlechterbeziehungen. Die
Jahrtausende der Männerherrschaft seien nun beendet, die gesellschaftliche
Transformation der Männlichkeit eine irreversible Tatsache. Unter einer
sozialen Gerechtigkeit verliere sexuelle Differenz ihren stigmatisierenden
Charakter und werde Heterosexualität nicht mehr auf der Basis von Hierarchie,
sondern von Gegenseitigkeit organisiert.(5)
Kulturpessimisten sehen
das ganz anders. Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens
titelte Sigmund Freud 1912 einen Aufsatz; darin verband er die männliche
Potenz mit einem erniedrigten Sexualobjekt und konstatierte für seine
Zeit eine psychische Impotenz der Männer. Soviel im 20. Jahrhundert
auch geschehen ist, diese unangenehmen Thesen bleiben auf der Tagesordnung.
Wem es um die Lebendigkeit der Gesellschaft und der Menschen zu tun ist, kann
nur ein Szenario entwerfen, wonach wir unsere Obsessionen überwinden.
Dazu gehören die angstvollen Annahmen:
die Frau sei ein gefährlicher Wunschproduzent;
das erotische und sexuelle Interesse Erwachsener an jungen, auch ganz
jungen, Menschen sei ein teuflisches Geheimnis;
einzig die Kindheit komme als prägende Lebensphase in Betracht.
In der abendländischen
Sexualkultur (diesmal die antik-griechische Wurzel ausgenommen) diente das
Geschlechtliche immer als Angstmacher. Seit der Erfindung der Erbsünde
fanden sich hier apokalyptische Befürchtungen und Drohungen um einen
nahenden Untergang der Menschheit. Wenn Geschlecht und Sexualität als
unstete, gleitend veränderliche und performative Akte angesehen werden,
dann gehen alte Gewißheiten verloren, Ungewißheit grassiert, Risiken
entstehen. Neue Problemlagen folgen auch aus den Prinzipien der Selbstführung
und des Kontraktualismus. Alle Grenzverletzungen fremder Autonomieregionen
werden problematisiert. Was Autonomie bedeutet, wie weit ihr Regime
reicht, wird woanders entschieden.
Aus zwei Quellen entspringt
der Sex in dreißig Jahren. Unsere Phantasien werden mitgestalten, was
wirklich wird. Aber nicht die Wünsche eines Einzelnen, etwa dieses Autors
hier, sondern kollektive Vorstellungen. Sodann kann sich nur realisieren,
was in der Sozialstruktur untergebracht werden kann. Beides zusammen, muß
der Soziologe sagen, bringt die Sexualität der Zukunft hervor: die Kreativität
des Menschen und der politisch-ökonomische Rahmen.
Der gesellschaftliche
Rahmen sieht aktuell und für mindestens ein Dutzend Jahre so aus: Die
Überwachung des Körpers wird mehr und mehr zum Ansatzpunkt einer
sozialen Ausschließung. Die soziale Kontrolle haftet am Äußeren,
statt sich um die Modellierung des Inneren der Subjekte zu bekümmern.
Das sexuelle Verhalten wird zum Indikator des gesellschaftlich brauchbaren
Menschen. Denn das Äußere der Akteure ist leichter und billiger,
also effizienter zu beobachten. Der Staat will oder kann nicht länger
in das Innere der Individuen hineinregieren, er überläßt es
ihnen zur Selbstführung. Die Maximen lauten, jeder möge
sich als ein Subjekt begreifen, kreativ und klug, unternehmerisch und vorausschauend,
sich selbst optimieren und verwirklichen.(6) Die Gesellschaft strebt
nach Sicherheit und betont Prävention das gelingt besser über
die Kontrolle der Körper als über eine Manipulation der Persönlichkeiten.
Sex in dreißig Jahren? Die kurze Antwort: Gewiß wird es ihn noch geben, und man wird ihn weiterhin problematisieren und instrumentalisieren. Und wie hätte meine Prognose 1977 ausgeschaut? Damals erschien mein Buch Gesellschaft und Homosexualität, und ich hatte eine schlaflose Nacht, weil ich mich darin explizit outete. Niemand aber hätte sich damals den Kopf über eine Homo-Ehe zerbrochen oder über Kinder in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften (wofür ich heute einem Beratungsgremium der Bundesregierung angehöre). Denn erstens kommt es anders und zweitens ...
*
Quellen/Anmerkungen
1) Siehe Daniela
Klimke/Rüdiger Lautmann, Die neoliberale Ethik und der Geist des Sexualstrafrechts,
in: Zeitschrift für Sexualforschung 19, S. 97-117, 2006.
2) Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, zuerst
1939. Frankfurt/M. 1976.
3) Reimut Reiche, Der gewöhnliche Weg zur Homosexualität
beim Mann. In: H. Bosse/V. King, Hgb., Männlichkeitsentwürfe. Frankfurt/M.
2000, S. 178-198.
4) Das entwickele ich in meinem Buch: Soziologie der Sexualität.
Erotischer Körper, intimes Handeln und Sexualkultur. Weinheim, 2002.
Siehe auch die Leichtausgabe davon: Sexualität, Kultur, Gesellschaft.
Edition Waldschlößchen. Göttingen 2003.
5) Robert W. Connell, Der gemachte Mann, Konstruktion und Krise von
Männlichkeiten. Opladen 1999, S. 247-252.
6) Ulrich Bröckling u.a., Glossar der Gegenwart. Frankfurt/M.
2004, S. 12.