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Körper von Gewicht


Die Hoffnung, die Zeiten der Homosexualität „heilenden“ Ärzte sei vorüber, ist voreilig. Wie sehr heutzutage selbsternannte Vertreter der Schwulen und ursprünglich medizinkritische Denkmodelle in die Pathologisierung verwickelt sind, zeigt am Beispiel der Magersuchtdebatte Florian Mildenberger

Deutsche Ärzte und Psychologen waren jahrzehntelang führend beteiligt, wenn es darum ging, Homosexualität zu pathologisieren und Schwulen und Lesben jede erdenkliche Krankheit oder Disposition anzudichten. Aber es gelang ihnen nie, Schwulen eine Affinität zur Magersucht nachzuweisen. Genau das tun heute amerikanische und britische Forscher, und sie begründen ihr absonderliches Interesse mit einem Bekenntnis zu „gender“ und ihrer angeblichen Hilfsbereitschaft. Selbstlos hatten Veteranen der Bulimie- und Anorexieforschung in den 1990er Jahren festgestellt, homosexuelle Männer seien besonders idealkörper- und schönheitszentriert in ihrer Wahrnehmung und tendenziell eher bereit, dafür zu hungern, als ihre heterosexuellen Geschlechtsgenossen (1). Ab der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts erschienen Studien, die aus früheren, in anderen Zusammenhängen und Zeitumständen (zum Beispiel während des AIDS-Hype in den 1980er Jahren) gesammelten Daten zusammengewürfelt waren und einer Uminterpretation unterzogen wurden. Die Ergebnisse lauteten, daß Männer gemeinhin später ihre Eßstörung bemerkten als Frauen, schwule Männer jedoch dem heterosexuellen männlichen Verhaltensschema nicht entsprächen (2). Ihre „gender role identification“ laufe darauf hinaus, daß sie sich wie heterosexuelle Frauen verhielten, sowohl hinsichtlich der Motive als auch Ausprägung der Eßstörung (3). Junge Schwule schienen im Gegensatz zu ihren heterosexuellen Altersgenossen besonders für „binge eating“ (eine Vorstufe der Bulimie) anfällig (4). Der Rolle des soziokulturellen Umfeldes, wie sie die Kritiker Daniel J. Carlat oder Karen Heffernan kritisch betonten, wurde in diesem Zusammenhang keine Bedeutung zugebilligt (5).

Liest man die Studien der Entdecker des exklusiv schwulen Hangs zu Eßstörungen genauer, so lassen sich frappierende Ungenauigkeiten bemerken. So stellten David B. Herzog und seine Mitarbeiter 1991 zwar fest, daß seine heterosexuellen Probanden eine bessere Schulbildung genossen hatten als die befragten Homosexuellen, aber sie unternahmen keine weitergehenden Überlegungen bezüglich der sozialen Herkunft und der damit möglicherweise verbundenen unterschiedlichen Einstellungen in den Sozialsphären zur Homosexualität (6). Gerade diese Studie weist noch eine weitere Problematik auf: So wurden schwule Männer aus dem US-Bundesstaat Massachusetts befragt – und das zu einer Zeit, als dort noch ein strenges „sodomy-law“ in Kraft war (die Strafbarkeit von Homosexualität endete erst 2002)! Die Möglichkeit, daß die Gefahr einer Kriminalisierung Auswirkungen auf die Psyche der Probanden haben könnte, wurde in keiner Weise thematisiert.

Homosexuelle Männer gelten also als Zwischenstufen zwischen heterosexuellem Mann und heterosexueller Frau, als weder das Eine noch das Andere. Auch in den deutschsprachigen Diskurs ist diese Ansicht bereits eingedrungen (7).

Die Ergebnisse auf Basis dessen, was Vertreter der „Bio-Macht“ unter Gender verstehen, ähneln in frappierender Weise den Überlegungen des Psychiaters Richard v. Krafft-Ebing, der mittels analoger Überlegungen die pathogene Natur des Homosexuellen beweisen wollte. Zahlreiche weitere Nervenärzte bedienten sich Ende des 19. Jahrhunderts dieser Argumentation, und auch der Vorkämpfer für die Emanzipation der Homosexuellen, Magnus Hirschfeld, wollte die Krankhaftigkeit der von ihm definierten „Zwischenstufen“ nicht vollkommen leugnen.

Es ist in diesem Zusammenhang durchaus bemerkenswert, welche Schlüsse einige Ärzte noch aus ihren Gender-Erkenntnissen zogen. Sie erklärten kurzerhand, Lesben stünden aufgrund ihrer Veranlagung völlig konträr zum üblichen Frauenbild, wiesen also eine „Gender nonconformity“ auf und seien deshalb weniger für Eßstörungen anfällig (8). Doch eine genauere Untersuchung ohne Gender-Scheuklappen ergab, daß diese Einschätzungen falsch waren (9). Eine spätere Studie ergab, daß sich Schwule und Lesben hinsichtlich der Häufigkeit von Eßstörungen ähnelten – gemäß einem normierenden Gender-Prinzip, das Frauen und Männer nach ihrer jeweiligen sexuellen Veranlagung in feste Handlungsmuster einteilt, schier ein Ding der Unmöglichkeit (10).

Ob die beteiligten Ärzte die Folgen ihrer Argumentation bedacht haben? Was folgt denn aus dem Weiterführen solcher Gedanken? Eigentlich doch nur die Feststellung, daß eine recht große Gruppe in der Bevölkerung dringend medizinischer Hilfe bedürfe: in Form von psychologischer und pharmakologischer Betreuung oder gar einer Therapie. Da diese Krankheiten gerade erst neu „entdeckt“ wurden, gibt es natürlich keine festgelegten Krankenkassenabrechnungsziffern oder (aus Sicht der Ärzte stets zu niedrig angesetzte) Honorare. Vielmehr gilt in solchen Fällen eine Art Freibrief für Abrechnungen. Dies betrifft gerade auch die Therapiemodelle. Seit den 1980er Jahren gelten verhaltenspsychologische Modelle, die sich unter Umständen über Jahre hinziehen, als ideal, um Magersucht in ihren verschiedenen Formen erfolgreich behandeln zu können (11). Die pharmakologische Therapie ist allenfalls als Teilaspekt der Psychotherapie nutzbar, aber nicht als Alternative. Gender taugt nicht nur bestens für Normierungen, sondern kann auch eine Lizenz zum Gelddrucken sein, ohne dabei in irgend einer Weise dekonstruktivistisch hinsichtlich der eigenen (im Grunde biologistischen) Denkschablonen arbeiten zu müssen.

Es stellt sich an dieser Stelle selbstverständlich die Frage, wer eigentlich die ganzen Probanden herbeischaffte. Auch hierüber geben die Autoren freigiebig Auskunft: Schwulenmagazine und Beratungsstellen waren behilflich (12). Wußten deren Mitarbeiter nicht, welcher Entwicklung sie Vorschub leisteten? Die Zeitschriftenredakteure dachten darüber wahrscheinlich nicht weiter nach, denn es waren bezahlte Werbeseiten. Beratungsstellen hingegen werden nur dann einer Förderung der öffentlichen Hand teilhaftig, wenn sie nachweisen können, daß möglichst viele Betroffene Rat suchen. In Zeiten der sexuellen Libertinage, gesellschaftlicher Toleranz und einer uninteressierten Heilkunde wird diese Zahl kaum steigen. Außerdem sind Männer ohnehin weniger um ihre Gesundheit besorgt als Frauen, wie mehrere Studien belegen (13). Sollten jedoch normierende Ärzte wieder verstärkt therapeutische Anstrengungen unternehmen oder auch nur mit neu entdeckten Krankheitsdispositionen an die Öffentlichkeit treten, so würde das Beratungspotential der vorgeblich jenseits der „Bio-Macht“ agierenden Minderheitenvertreter ansteigen.

Das ist das Neue im Vergleich zu den Tagen Krafft-Ebings: daß die selbstbewußten Schwulen und Lesben von heute selbst Teil der Macht-Maschinerie geworden sind und so die „Opferlotterie“ am Laufen halten. So lange dies in einem aufgeklärten, wirtschaftlich prosperienden Staatswesen stattfindet, mag das tatsächlich kein großes Problem sein. In Zeiten jedoch von unkontrollierter, staatlicherseits aber geförderter Terrorangst, einem Anwachsen des Überwachungsstaates und der Gefahr gravierender Wirtschaftsprobleme mit ihren ganzen gesellschaftspolitischen Zentrifugalkräften könnte ein solcher Drahtseilakt negative Konsequenzen haben – aus Sicht der Schwulen selbstverständlich, nicht aus der „ihrer“ behandelnden Ärzte. Und daß der Drang zur Repathologisierung besteht, läßt sich aus den künftigen Forschungswünschen klar ablesen: „A more rigorous study design could compare men with general psychiatric disorders, men with eating disorders, and men with no psychiatric disorders to explore whether homosexuality is a specific risk factor for eating disorders in men.“ (14)

Der neueste Trend zielt darauf ab, Homosexuelle mit Eßstörungen in einen direkten Kontext zu gewaltbehafteten sexuellen Erfahrungen in ihrer Kindheit und Jugend zu setzen (15). Dies impliziert eine indirekte Verschränkung von Homosexualität und Pädophilie und paßt vorzüglich in den aktuellen gesellschaftspolitischen Diskurs in den USA, aber auch in Mitteleuropa. Schließlich sollte der kritische Betrachter nicht übersehen, was das Kernelement einer Psychotherapie bei Eßstörungen darstellt: die Herauslösung des Kranken aus dem, was früher als „pathogenes Milieu“ bezeichnet wurde (16). Der Patient soll dieses „krankmachende Umfeld“ dauerhaft verlassen und ein völlig neues Leben beginnen. Man könnte auch sagen: heterosexuell werden.

So sind all die geschilderten Überlegungen vor allem eins: realitätsfern. Sie basieren auf der Konstruktion eines Kollektivs. Ärzte, Psychologen wie Beratungsstellenmitarbeiter gehen davon aus, es gäbe einen einheitlichen Homosexuellentypus, der sich womöglich noch nach der Konstitution untergliedern ließe. Völlig unterschätzt werden neuere Trends in der schwulen Welt, so das „Feeding“. Dabei handelt es sich um das Phänomen, daß häufig junge Männer Gewichtszunahmen attraktiv finden und die Zahl der „fat admirer“ ebenfalls ansteigt. Es erscheint naheliegend, daß diese Entwicklung in Zeiten eines überbordenden Schlankheitskultes einsetzte, begünstigt eventuell durch die latente Furcht vorm sozialen Abstieg in Zeiten der Wirtschaftskrise. Denn die symbolhafte Verbindung von Macht/Geld und fleischlicher sowie sexueller Potenz ist eben noch immer in unserem Kulturkreis gegeben. Essen steht für Wohlfühlen im stillen, jenseits einer lauten, zunehmend bedrohlich wirkenden Welt (17). Man könnte dies sehen, vernebelten nicht materielle Interessen den Blick dafür. Oder übernehmen homosexuelle Männer gar einen Trend der jüngeren Frauenbewegung, die die Magersucht zum Widerstand gegen die patriarchale, heterosexistische Konsumgesellschaft erhob (18)? Wohl eher nicht, eine solche Frontstellung gegen das bestehende System paßt nicht zum Selbstbild einer apathisch gewordenen sozialen Bewegung, deren Vertreter sich in Forderungen nach Integration und Gendermainstreaming ergehen.

Reichliches Essen und libertäre Sexualität könnten aber ein neues Bündnis eingehen. Wäre da nicht die Sache mit dem bösen Fett, vor dem Gesundheitsbehörden und TV-Reißer wie „Unsere dicken Kinder“ beständig warnen. Doch hier machten bereits Molekularbiologen den heilungswütigen Therapeuten einen Strich durch die Rechnung. Sie benannten genetische, medikamentös und psychotherapeutisch kaum beeinflußbare Faktoren und Ursachen (19). Es wäre wirklich am Rande der Geschäftsschädigung, sollte sich dies bei der Magersucht in ihren unterschiedlichen Spielarten eines Tages als ähnlich erweisen. Denn die Flucht hin zu den „soziokulturellen Umständen“ haben sich die unberufenen Wohlfühltherapeuten ja schon selbst verbaut.

Was bleibt nun außer der Feststellung der weiteren Gültigkeit von Uncle Scrooges alter Weisheit „follow the money“? Nur die Hoffnung, daß die Mitarbeiter schwuler Beratungsstellen hierzulande nicht ganz so kurzsichtig handeln wie ihre Kollegen in den USA. Möglicherweise nutzt auch die Rückständigkeit der hiesigen Ärzte und Krankenversicherungen, wo man sich der machtkonstruktivistischen Möglichkeiten von gender noch nicht ganz so bewußt ist. Rückständigkeit kann manchmal so beruhigend sein.

 

Quellen

1) D. J. Carlat/CA Camargo: Review of bulimia nervosa in males. In: American Journal of psychiatry 148 (1991), 831-843; D. B. Herzog u.a.: Body image dissatisfaction in homosexual and heterosexual males. In: Journal of nervous and mental disease 170 (1991), 356-359.
2) D. L. Braun u.a.: More males seek treatment for eating disorders. In: International journal of eating disorders 25 (1999), 415-424, 415.
3) A. S. Robb/M. J. Dadson: Eating disorders in males. In: Child and Adolescent Psychiatric Clinics of North America 11 (2002), 399-418, 402; P. A. Brand u.a.: A comparison of lesbians, gay men, and heterosexuals on weight and retrained eating In: International journal of eating disorders 11 (1992), 253-259.
4) S. A. French u.a. : Sexual orientation and prevalence of body dissatisfaction and eating disordered behaviours: a population-based study of adolescents. In: International Journal of Eating Disorders 19 (1996), 119-126, 123.
5) D. J. Carlot u.a.: Eating disorders in males. A report on 135 patients. In: The American journal of psychiatry 154 (1997), 1127-1132, 1127; K. Heffernan: Sexual orientation as a factor in risk for Binge eating and bulimia nervosa. A review. In: International journal of eating disorders 31 (2002), 335-347, 337.
6) D. B. Herzog u.a.: Body image, 357.
7) A. Franke: Essstörungen bei Männern und Frauen. In: K. Hurrelmann/P. Kolip (Hg.): Geschlecht, Gesundheit und Krankheit. Männer und Frauen im Vergleich, Bern: Hans Huber 2002, 359-374, 367.
8) S. A. French u.a.: Sexual orientation, 124.
M. B. Feldman/I. H. Meyer: Eating disorders in diverse lesbian, gay, and bisexual populations. In: International journal of eating disorders 40 (2007), 218-226, 219.
9) K. Heffernan: Eating disorders and weight concern among lesbians. In: International journal of eating disorders 19 (1996), 127-138, 136.
10) K. Heffernan: Sexual orientation as a factor in risk, 335.
11) C. G. Fairburn u.a.: Cognitive behavioural therapy for binge eating and bulimia nervosa: A comprehensive treatment manual. In: C. G. Fairburn/G. T. Wilson (Hg.): Binge Eating. Nature, Assessment, and treatment, New York: The Guilford Press 1993, 361-404. Zu Deutschland siehe A. Hilbert u.a.: Eating Disorder Examination: Vorläufige teststatistische Eigenschaften der deutschsprachigen Version des strukturierten Eßstörungsinterviews. In: B. Steinbrenner/M. Schönauer-Cejpek (Hg.): Eßstörungen. Anorexie – Bulimie – Adipositas. Therapie in Theorie und Praxis, Wien: Maudrich 2003, 106-112.
12) D. B. Herzog u.a.: Body image, 357; C. S. Russell/P. K. Keel: Homosexuality as a specific risk factor for eating disorders in men. In: International Journal of eating disorders 31 (2002), 300-306, 302.
13) R. S. Kirby/M. G. Kirby: Männerheilkunde. Gegen den Gender-Gap. In: RS Kirby u.a. (Hg.): Männerheilkunde, Bern: Hans Huber 2002, 13-18, 13.
14) C. S. Russel/PK Keel: Homosexuality, 305.
15) MB Feldman/IH Meyer: Childhood abuse and eating disorders in gay and bisexual men. In: International journal of eating disorders 40 (2007), 418-423.
16) G. Nissen: Ambulante Psychotherapie eines Jungen mit schwerer Magersucht. In: Gerd Biermann (Hg.): Handbuch der Kinderpsychotherapie. Ergänzungsband, München/Basel: Ernst Reinhardt 1976, 406-411, 411.
17) K. Greiner: Völlig weichgespült. In: Süddeutsche Zeitung Magazin 2008, Nr. 5, 14-17, 17.
18) M. L. Angerer: Zwischen Ekstase und Melancholie. Der Körper in der neueren feministischen Diskussion. In: L’Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 5 (1994), 28-44, 37.
19) Y. C. Chagnon/L. Pérusse/C. Bouchard: The molecular and epidemiological genetics of obesity. In: D. H. Lockwood/T. G. Heffner (Hg.): Obesity. Pathology and Therapy, Berlin/Heidelberg: Julius Springer 2000, 57-90, 57, 67.