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Kleine Lügen

Istanbul ist die Stadt der Geschichten. In Istanbul ist das Leben dein Unterricht.“ So beschreibt Mehmet Tarhan in Döndü Kiliçs Dokumentarfilm das Leben von Transen und Schwulen in der türkischen Metropole. Eine zartbittere Liebeserklärung an die Stadt, die für sexuelle Minderheiten immer beides bereithält: größtmögliche Freiheit und viel alltägliche Unterdrückung bis hin zu brutaler Gewalt.

Zu den ergreifendsten Momenten in der 2007/2008 gedrehten 82minütigen Dokumentation „Das andere Istanbul“ zählen die Bilder weinender Männer. Einen haben homophobe Jugendliche aus der Nachbarschaft angegriffen. Blutend sitzt er im Treppenhaus, aber das Büro der Homo-Organisation Lambda ist verschlossen. Er will zurück in den Osten des Landes. „In einem kleinen Dorf begegnet man Menschen mit Respekt. Hier nicht.“ Ein andermal schluchzt eine verdroschene Transe im Taxi. Der Fahrer, ein warmherziger Alter, hört zu. Er erlebt derartige Verzweiflung offenbar regelmäßig. „Die Transen werden hin- und hergeschubst. Keiner will sie.“ Das Stadtviertel Taksim sei „der widerlichste Ort in Istanbul“, sagt er in Kiliçs Kamera.

Die 33jährige, in der Türkei geborene Absolventin der Deutschen Film und Fernsehakademie (dffb) kommentiert nicht, sie beobachtet. Wie verbringt abweichende Sexualität ihre Freizeit? „Ich verteile Lügen von links nach rechts“, sagt ein junger Mann beim Lambda-Gruppentreffen. Die Anwesenden lachen wissend. Es sind die kleinen Notlügen über angebliche Freundinnen, die man als Schwuler der Familie auftischt, damit die nicht zu viele Fragen stellt. Auch Mehmet Tarhan engagiert sich in der Gruppe. Daß er als offen Homosexueller den Kriegsdienst total verweigerte, trug ihm europaweit Anerkennung und Unterstützung ein – bei pazifistischen Friedensorganisationen. Elf Monate Haft, er gilt als fahnenflüchtig. Die Behörden verweigern ihm Ausweis und andere amtliche Dokumente, was sich auswirkt: Ohne Papiere keine Wohnung, kein Arbeitsplatz. „Nur wer türkisch und heterosexuell ist, ist für das System wertvoll. Wir leben seit achtzig Jahren in einer Militärdiktatur“, sagt der Kurde Tarhan.

In einer geradezu medienkritischen Sequenz filmt Kiliç ein Interview des niederländischen Fernsehens mit Tarhan. Wie er Homosexualität bewerten würde, wenn er türkischer Armeegeneral wäre, fragt der Interviewer. Tarhan empfindet die bestenfalls naive Frage zu Recht als Beleidigung. Das Interview droht zu platzen, die Dolmetscherin muß vermitteln. Später begleitet Kiliç die Homo-Aktivisten mit der Handkamera zur Friedensdemo. Tänze mit der Regenbogenfahne. Hier wird niemand verkloppt. Das TV-Team aus Hilversum ist da längst über alle Berge.

Der von Döndü Kiliç befragte Mufti von Istanbul sieht die Sache so: Nach den religiösen Schriften verliere seine Berechtigung als Mensch, wer Homosexualität auslebe. Aber: „Nur eine richterliche Instanz darf eine Strafe verhängen, nicht der Islam.“ Die türkische Gesellschaft indes macht Unterschiede. „Als armer Homo bist du nichts wert, als reicher schon. Reiche Homos werden von der Oberschicht akzeptiert“, sagt ein Lambda-Aktivist. Und eine Transe fragt: „Wer bin ich? Ich bin alles. Im Bus bin ich ein Mann. Nachts auf der Straße eine Transe. In der Gaybar schwul und auf der Bühne bin ich wirklicher als eine echte Frau.“

Dirk Ruder