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Keusch in Lviv

Entgegen landläufiger Meinung war Sexualforschung zwischen 1900 und 1933 nicht auf Berlin beschränkt, auch wenn sie dort professionalisiert worden war. Wie sehr Sex und das Drumherum die Zeitgenossen im slawischen Teil der untergegangenen kaiserlichen und königlichen Monarchie beschäftigte, ergründete vom 12. bis 13. Juni eine Konferenz in Lviv. Unter den Fittichen des Wirth-Institute der University of Alberta und des lokalen Lviv-Centers diskutierten ForscherInnen aus den USA, Tschechien, der Slowakei, Deutschland, der Ukraine und Kanada über sexuelle (Zwangs-) Verhältnisse undZwangsvorstellungen sowie Emanzipationsbewegungen zwischen Unterdrückung und Aufbruch.

Wie sehr jedoch überkommene Gedanken den Geschlechterdiskurs noch heute in der Ukraine beeinflussen, bewies gleich zu Anfang Juri Kriworutschko von der Technischen Universität Lviv. In Verknüpfung der Gedanken Ernst Machs und Hitlers wohl einzigen jüdischen Vorbildes, Otto Weininger, suchte er zu erklären, warum der „Geschlechterkampf“ weiter die Triebfeder der Entwicklung einer modernen Gesellschaft sei. Selbst seine eigenen Studierenden erröteten vor Scham. Es folgte eine Reihe informativer Vorträge zur Situation von Prostituierten in der späten k.u.k.-Zeit und im I. Weltkrieg. Es zeigte sich, wie sehr lokale Behörden bemüht waren, gesetzliche Zwangsmaßnahmen noch zu verschärfen, um den Wiener Vorgesetzten zu beweisen, wie „zivilisiert“ es an der östlichen Reichsgrenze zuging. Daß die örtlichen Honoratioren selbst unter gewaltigem Samenstau litten, schilderte Roman Holec von der Universität Bratislava. Die Spitzenkräfte der slowakischen Oberschicht betätigten sich einerseits in der Verfolgung jeder Art sexueller Aufklärung oder weiblicher Emanzipation, hielten aber in mehrbändigen Tagebüchern jeden Orgasmus und Gang zu Prostituierten peinlich genau fest. Laut Holec starben alle diese männlichen Stützen der Doppelmonarchie an den Folgen von Paralyse/Syphilis verstarben.

Wie sehr sich Diskurs und Umgang mit Sexualitäten im Krieg und unter Zwangsumständen verändern konnten, zeigten Referate von Natalia Blochina (Kiew), Lisa Todd (University of New Brunswick), Tamara Scheer (Wien) und Anna Hajkova (Toronto). Bei den meisten Referentinnen stand der I. Weltkrieg im Mittelpunkt, als das Grenzgebiet zwischen Rußland und Österreich-Ungarn Schlachtfeld und Feldlager sexuell ausgehungerter Soldaten war. Insbesondere Todd wies nach, daß in Zeiten materieller Not und des Verlusts übergeordneter Orientierungspunkte jede Propaganda versagt: Mit Syphilis infizierte Soldaten und Prostituierte wußten sehr wohl um die Gefahr, teilweise auch um die Ansteckungswege. Es interessierte nur niemanden.

Ein ganz neues Forschungsfeld stellte Anna Hajkova vor: die sexuellen Verhältnisse im Konzentrationslager Theresienstadt zwischen 1942 und 1945. Ihr gelang es darzustellen, wie sehr das in einem Festungsareal untergebrachte Lager Teil des Stadtlebens war, wodurch sich selbstverständlich die Frage nach der Mitwisserschaft der Bevölkerung stellt. Spätestens, wenn jüdische Frauen der Zwangsprostitution unterlagen, konnten einheimische Männer nicht mehr behaupten, zu dem KZ in keinem Bezug gestanden zu haben. Nicht wenige Anwesende fragten sich, ob diese Verhältnisse nicht womöglich auch auf andere Konzentrationslager zutrafen.

Männliche Homosexualität kam bei der Konferenz ebenfalls nicht zu kurz, da Jan Seidl (Prag), Pieter Judson (Swarthmore College, Pennsylvania) und Florian Mildenberger (Berlin) lebhaft diskutierten, wann welche Teile des sexologischen Diskurses wissenschaftlich haltlos wurden oder vom Epizentrum Berlin in die Regionen östlich der vormaligen Reichsgrenzen vordrangen. Versuche örtlicher Professoren, in der folgenden Diskussion die Relevanz der Verführungstheorie zu betonen, verfingen nicht.

Wie sich sexuelle Freiheit in der heutigen Ukraine häufig darstellt, bewiesen in einer Runde unter Leitung des Lviv Centers selbsternannte Hüter weiblicher Unschuld. Der Ex-Sicherheitsberater einer Pipeline-Firma stellte sich als Gründer eines Rückholprogramms für Zwangsprostituierte vor. Er sei stolz auf sein Einreiseverbot in die Türkei, wo er bei einer Zurückholung einen Puff samt Inhaber plattgemacht habe. Auch in Westeuropa greife er zu und bringe die Frauen zurück zu ihren Familien. Daß sie zuweilen keineswegs zurückgeholt werden wollten oder gar von zu Hause getürmt waren, interessierte ihn nicht; es gehe es um die Ehre der ukrainischen Frau – und die der Ukraine. Mitwirkende örtlicher Sexualberatungen saßen still daneben oder applaudierten. Die Finanzierung dieser Feldzüge besorgt den Frauenschützern zufolge übrigens der Fernsehsender RTL. Kritik ließ der vormalige Sicherheitsfachmann nicht gelten; im Westen verstehe man die Situation in der Ukraine überhaupt nicht, habe keine Ahnung von Prostitution und vertrete zudem die falschen Ideen. Auf die süffisante Frage, ob vielleicht früher, zu Sowjetzeiten, alles besser gewesen sei, kam die Antwort: Damals sei „das ukrainische Volk“ unterdrückt worden und heute gebe es so viele Freiheiten, die nur manchmal „dumme junge Frauen“ fehlinterpretierten.

Lviv war stets Zentrum ukrainischen Unabhängigkeitsstrebens. Neuerdings emanzipiert man sich auch noch von der Realität. Der Rekurs auf dumpfe Nationalrhetorik wurde in der Konferenz ebenfalls thematisiert. Daß die Geschichte nicht vergehen will, war allerdings eine harte Erfahrung für viele der Historiker.

Florian Mildenberger