Kerle
mit Vollbart und Fummel
Die Unterdrückung
der Homosexualität ist nur ein Spezialfall der allgemeinen Sexualunterdrückung.
So lautete das Motto, unter dem vor 35 Jahren das zweite Pfingsttreffen der
bundesdeutschen Schwulengruppen stand. Ausrichterin war die Homosexuelle Aktion
Westberlin, kurz: HAW. Was sich dort vor den Augen der Öffentlichkeit
abspielte, mündete in eine bis heute bekannte Debatte um Formen und Inhalte
sexueller Emanzipationsbestrebungen. Ein Rückblick aus Hamburger
Perspektive von Bernhard Rosenkranz
An der Abschlußdemonstration
nahmen auch Vertreter französischer und italienischer Gruppen teil. Ihr
Verhalten schockierte andere Teilnehmer. Sie traten gemeinsam im Fummel auf,
tanzten auf den Straßen und tuckten herum. In Boulevardzeitungen wurde
die Demonstration als Marsch der Lidschatten bezeichnet. Aus diesem
Eklat entstand schließlich eine Strategiedebatte, der sogenannte Tuntenstreit.
Die Gruppe der orthodoxen Marxisten vertrat die Ansicht, Solidarität
erreiche man nicht mit Provokation. Männer in Frauenkleidern, das war
für sie nicht annehmbar. In diesem Punkt waren die Politschwestern erstaunlich
konservativ. Damit würde man die Arbeiterklasse eher verschrecken. Die
Tunten wiederum wollten ihr effeminiertes Wesen nicht tarnen: Sie sahen sich
als die eigentlichen Revolutionäre der Bewegung. Sie wollten ihre Unangepaßtheit
und Andersartigkeit innerhalb der Gesellschaft ausleben und sich nicht bürgerlichen
Normen und Konventionen unterwerfen.
Der Tuntenstreit tobte
wie in allen Zentren der noch jungen Zweiten deutschen Schwulenbewegung auch
in Hamburg. Er spaltete die Mitglieder der Homosexuellen Aktion Hamburg (HAH)
in Polit- und Lustfraktion. Einer der damaligen Lust-Aktivisten,
Götz Barner, im Rückblick: Es ging pausenlos um die Diskussion,
wie politisch die einzelnen Aktionen sind. Selbstverständlich war es
für uns politisch, Fummel anzuziehen, auf der Bühne zu stehen und
uns auszuleben.
Indes wollten die Anhänger
der HAH-Lustfraktion keineswegs Frauen imitieren. Weder rasierten sie sich
ihre Bärte ab noch wurden die Augenbrauen gezupft. Im Gegenteil: Das
Tragen von Frauenkleidern trotz dieser Attribute von Männlichkeit erschien
als eine Möglichkeit, sich überhaupt als Schwuler öffentlich
zu erkennen zu geben. Palästinensertücher und Parka wurden also
gegen Kleider und Pumps getauscht. Das war ein wesentlicher Unterschied zu
jenen angepaßten Homosexuellen, die nur nachts Fummel anzogen, um sich
in ihre Idealfrau zu verwandeln. Harry Askitis, ein Verfechter des Fummeltragens,
erinnert sich: Mit Sperrmüll-Jenny bin ich in Kleidern
aus den zwanziger Jahren zur Uni gegangen. Anstelle einer Aktentasche hatten
wir eine Handtasche. Wir wollten als Schwule identifiziert werden. Das Schlimmste
wäre gewesen, wenn man uns mit einer Frau verwechselt hätte. Teilweise
wurden wir von Männern auf der Straße angepöbelt. Frauen reagierten
fast immer positiv. Die vielen spontanen Aktionen im Fummel haben mein Selbstbewußtsein,
als Schwuler frei zu leben, enorm gestärkt.
Zwischen Mitte und Ende
der siebziger Jahre fanden in Hamburg zahlreiche Aktionen statt, zum Beispiel
ein gemeinsamer Besuch der deutschen Erstaufführung des Musicals Männer
sind doch bessere Frauen mit Evelyn Künnecke und Peter Ahrweiler
im Operettenhaus. Die Vorstellung wurde kurzerhand als Diskussionsplattform
mit den Besuchern genutzt. Als der riesige Pulk von Fummeltrinen ins Theater
kam, nahmen die Zuschauer an, dieser Auftritt gehöre zum Stück.
Die Plätze in der ersten Reihe wurden erst eingenommen, als schon alle
anderen Zuschauer saßen. Mit donnerndem Applaus wurden die Trinen begrüßt.
Als der Vorhang aufging, konnte sich die Künnecke kaum halten vor Lachen
über die Paradiesvögel. In der Pause wurde mit den Zuschauern über
Homosexualität diskutiert.
Einer der unangepaßten
Provokateure der Lustfraktion war die erwähnte Sperrmüll-Jenny.
Den Tuntennamen hatte sich Jens-Peter Jacobsen mit der Herkunft seiner alten
Wohnungseinrichtung verdient. Harry Askitis: Jens hielt es immer für
Quatsch, sich nach den Erwartungen anderer Menschen zu richten. Man sollte
so sein, wie man ist und fühlt, sonst nichts. In dieser kompromißlosen
Weise wollte er als Schwuler nicht angepaßt und ordentlich sein, sondern
kompromißlos, schräg und nur den eigenen Bedürfnissen verpflichtet.
Als Grande Dame war er Maskottchen der Lustfraktion
und als Elektroniker technisches Herz der HAH- und Tuc Tuc-Veranstaltungen.
Seine Flugblattgestaltungen hauchten der HAH ein Flair von Jugendstil ein.
1978 war das Jahr der Fummelfeten. Die Antirepressionsgruppe der HAH veranstaltete mehrere Feste, unter anderem im Kinderhaus Heinrichstraße, die auch von zahlreichen heterosexuellen Männern in Frauenkleidern besucht wurden. Die Programme waren ehrgeizige Mischungen aus Unterhaltung und Politik. Zu den Höhepunkten gehörten die Wahl des Mannes mit dem schönsten Fummel, eine Diskussion zum Thema Schwule, Fummel, Heteros, eine Ton-Dia-Show zur Schwulenunterdrückung sowie ein Sketch der Reihe Papa, Charly hat gesagt mit schwuler Thematik. Für Live-Musik sorgten Angi Domdey, damals Sängerin und Gitarristin der Frauenband Schneewittchen, die Spalding Sisters und Abbi Wallenstein mit Mitgliedern von Alcatraz. Im Gegensatz zu den eher auf allgemeine Volksbelustigung abzielenden kommerziellen Tuntenbällen im Besenbinderhof oder Curio-Haus hatten die Fummelfeten der HAH immer ein politisches Anliegen, um mit den Heteros ins Gespräch zu kommen. Die Verkleidung diente dazu, die Geschlechterrollen in Frage zu stellen und nicht dazu, aus einem Mann eine möglichst perfekte Frau zu machen. Mit dem Begriff Trümmertuntenästhetik können die Kostüme auf den Fummelfeten am besten beschrieben werden: Der Fummel stammte überwiegend vom Sperrmüll oder aus Secondhand-Läden. Da wurden Füße der Größe 45 in zierliche Frauenschuhe gequetscht, Fünfmark-Perücken übergestülpt und aufsehenerregende Kreationen aus ausgedienten Röcken, Kitteln und Tüchern gezaubert. Dabei waren der Phantasie keine Grenzen gesetzt. Und Bartträger ließen selbstverständlich diesen Teil ihrer männlichen Pracht stehen.