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In Bahnhofsnähe

Rhythmisches Quietschen. Man glaubt zu ahnen, was jetzt kommt, schließlich heißt der Film "Porno". Die Kamera fährt nach unten, aber die Hoffnung auf eine wilde Fickszene wird vom Regisseur enttäuscht: Es ist Marek, der auf einer rostigen Schaukel in einer polnischen Vorstadtsiedlung hockt und Langeweile schiebt – quiiietsch, qiiiietsch. Doch kein Pornofilm, hahaha, denkt das Publikum, aber dann wirbeln die Erwartungen im Zuschauerraum noch einmal durcheinander. Mit im Kinosaal bei den 54. Internationalen Kurzfilmtagen vom 1. bis 6. Mai in Oberhausen saß Dirk Ruder

Während Marek auf einer alten Schaukel gelangweilt in die Gegend glotzt, kommt vom Wiesenrand Wioletta angetrottet, baut sich auf und sagt: „Willst du meine Pussy sehen?“ Marek will nicht, aber Wioletta erweist sich als harnäckig. Der Rest von Jan Wagners zehnminütigem Beitrag „Porno“ spielt sich in heruntergekommenen Abbruchhäusern ab, wo Wioletta es partout auf die erste Nummer anlegt, worauf Marek allerdings heftig zu verzichten trachtet. Nicht grundsätzlich, aber so energisch, wie das Mädchen an die Sache rangeht – da hat man als Junge Diskussionsbedarf. Filme wie dieser haben beim Kinder- und Jugendfilmwettbewerb der Oberhausener Kurzfilmtage immer gute Chancen auf einen Preis.

Wo Kinder unkontrolliertem Sex ausgesetzt sind, droht Gefahr. Zum Beispiel vom bösen Wolf. In Priit Tenders knallbunter Knetanimation „Miriams Theater“ kann das Wolfsthema – wie sonst auch – als Verweis auf den Mißbrauchsdiskurs gelesen werden. Doch Tender zeigt humorvoll, daß sich aufgeklärte Kinder zu wehren wissen: Das von den Eltern im Kinderzimmer aufgeführte Rotkäppchen-Stück endet ganz anders als in der blutrünstigen Grimmschen Originalversion. Große Schwester, Kleiner Bruder und die mutige Henne Miriam stürmen die Kinderzimmerbühne und überwältigen den Wolf, noch bevor der Großmutters Haus überhaupt betreten kann. Verschnürt wie ein Weihnachtspaket am Boden liegend erweist sich schnell, wer da eigentlich im Kostüm des Bösewichts steckt: der Papa!

Ein ungwöhnlicher Animationsfilm im Erwachsenenprogramm war der fast halbstündige finnische Beitrag „Uralin Perhonen“ (dt. „Weit weg vom Ural“) von Katariina Lillqvist, der die Liebe eines mythischen Generals zu seinem Diener im finnischen Bürgerkrieg von 1918 behandelt. „Der Film geht auf ein Volksmärchen um den General Mannerheim zurück, der von einer Reise einen kirgisischen Diener mitbrachte“, so der Festivalkatalog. In dem verträumt und surrealistisch daherkommenden Märchen sucht die Gernalsgattin mit Hilfe eines Keuschheitsgürtels vergeblich zu verhindern, daß der treue Diener ihren Mann weiter von hinten besucht. Puppentrick mit homosexuellem Sex inmitten in einer bis ins Kleinste liebevoll ausgestalteten Kulisse à la DDR-Sandmännchen – das ist neu.

Den MuVi-, also Musik-Video-Preis heimste diesmal ein auf Trash gebürsteter Realfilm aus Bahnhofsnähe ein. „Ich bin der Stricherjunge/mit der Raucherlunge/Ich geh am Bahnhof lang/und steck mir Kippen an“, singt aus dem Off Françoise Cactus von Stereo Total. So wie der Stricherjunge und seine lederbehosten Kollegen in Simone Gilges' Video die Freier anbaggern, fühlt man sich ästhetisch an Rosa von Praunheims „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt“ aus den siebziger Jahren erinnert. „Es ist die Essenz des Pop: Es zeigt Freunde, Mode, Spaß, ist spontan, improvisiert, authentisch, selbst gemacht und holt das Beste aus seinem Budget. Die visuelle Ästhetik paßt gut zu dem low-fi Sound des Stücks ... Es ist ein Dokument der Berliner Punkszene“, mißverstand die MuVi-Jury in der Laudatio. Da die Songs von Stereo Total eigentlich nichts anderes als Freie Liebe thematisieren, darf man „Ich bin der Stricherjunge“ durchaus als Hymne auf die Sexarbeit verstehen. „Der Gewinnerclip lebt von der Unperfektion“, kommentierte die Tageszeitung NRZ. – Eben nicht! Unperfekte Filmchen gibt’s zuhauf. Der Clip lebt von der Botschaft.

Zu den Fundstücken abseits des Wettbewerbsprogramms gehörten im Sonderprogramm „Profil: NRW“ der Halbstünder „Lostage“, Bettina Eberhards bäuerlicher Abschlußfilm an der Kölner Hochschule für Medien. „In Wahrheit ist Jakob eine Frau. Doch damit das Dorf nicht vom Unglück verfolgt wird, zwingt die abergläubische Gemeinschaft sie, als Mann zu leben. Jakob hat diese Rolle nie in Frage gestellt, nicht bis Tom kam ...“, hilft der Festivalkatalog bei der Interpretation des allerdings nicht durchweg plausiblen Werks. In einem der Screenings für die Filmwirtschaft lief der niederländisch-rumänische Streifen „Pas (de deux): A Sofa Peace“. Calin Dan thematisiert darin den schwul-lesbischen Aufbruch in Rumänien nach 1989. „Vor diesem Hintergrund wollte ich ein taktisches Video drehen, dessen Leitmotiv ein Pas de deux zweier männlicher Tänzer war“, verriet Dan.

„Là-bas“ im Sonderprogramm zu Andrew Kötting erwies sich als Liebesgeschichte „über den Kanal hinweg in einem von Lesben betriebenen Bed-and-Breakfest in Bexhill-on-Sea. Ein Streifzug durch komische sexuelle Szenarien mit einem Haufen von Typen, die zwar in der Welt leben, sich aber wünschen, mehr in der eines anderen zu leben: Phantasie und Wirklichkeit, Engländer und Franzosen. Körper in Aktion im Bett und beim Frühstück“ (Katalog). Ähnlich schrill hopsten die beiden Nackten in Mara Mattuschkas halbstündigem Mann-Frau-Drama „Running Sushi“ aus Österreich über die Leinwand. Von zwei Franzosen stammte im Sonderprogramm „Grenzgänger und Unruhestifter“ der 1906 gedrehte Stummfilm „La Grève des bonnes“ (dt. „Der Streik der Guten“). Frauen und als Frauen verkleidete Männer stürmen zum Arbeitsamt und zum Polizeirevier mit Schildern wie „Nieder mit den Bossen, es lebe der Streik!“ Kuratorin Madeleine Bernstorff merkte im Katalog an, der über hundert Jahre alte Film handele vom ersten „massenhaften Auftreten von Frauen im öffentlichen Raum“ – und vergaß dabei die Tunten.

Als Highlight erweis sich das Sonderprogramm „Zwischen Widerstand und Verfolgung: Akram Zaatari und die Codes visueller und verbaler Sprache“. Für Kenner sind die Codes des Libanesen nicht schwer zu entschlüsseln, etwa wenn in Zaataris „Baalbeck: The Drift“ (2001) zwei Typen vom Anblick eines gutaussehenden jungen Mannes abgelenkt werden, dem sie schließlich durch den halben Libanon folgen. Der Videobrief „al-ilka al-hamra“ (dt. „Rotes Kaugummi“) erinnert den Ex-Liebhaber eines Mannes an das ausgespuckte Kaugummi eines Straßenverkäufers, das die beiden Männer heimlich weiterkauten und daran, daß der Ex-Freund „damals in der schwarzen Gasse bekam, was er wollte“. Das war „wie ein Traum, aber ja es ist wahr“, sagt die Off-Stimme. „Tabiaah Samitah“ (2008) zeigt zwei Männer in einem Raum. „Während der alte Mann Sprengkörper zusammenbastelt, flickt der junge Mann vorsichtig den Saum eines alten Jacketts. Welcher der beiden Männer wird den vermeintlichen Anschlag ausführen?“, fragt der Festivalkatalog. „In welcher Beziehung stehen sie zueinander, und warum wirkt die Beziehung so zärtlich?“ In verschwommenen Bildern visualisiert schließlich „Bathroom Naughtiness“ ein Gedicht einer heterosexuellen Nacht. Der mit einem Paukenschlag offenbar werdende Bruder-Schwester-Inzest verstört nur Westeuropäer, für Zaataris Heimatpublikum sind vielmehr die sexuell expliziten Begriffe in arabischer Sprache schockierend. „Libanesen und Araber sind es nicht gewohnt, solche Begriffe auf der Leinwand zu hören. Im Libanon verwendet man französische Worte, wenn es um Sex geht. Die arabischen Wörter kratzen im Ohr“, erläuterte Zaatari in Oberhausen dem Publikum. Eigentlich schade, daß zum Screening keine vorgekauten roten Kaugummis gereicht wurden.