Der
Mann war eine der zentralen Figuren des deutschen Neofaschismus, und sein
großes Vorbild war der auf Geheiß Hitlers ermordete homosexuelle
SA-Chef Ernst Röhm. Großes Aufsehen erregte 1986 seine Schrift
Nationalsozialismus und Homosexualität. Denn das Werk des
nicht offen schwulen Naziführers, der nur fünf Jahre später
an den Folgen von AIDS verstarb, stellte die rechte Szene der Bundesrepublik
vor eine harte Zerreißprobe. Mit der Rolle Michael Kühnens und
seinem Nachhall in der Neonazi-Szene befaßt sich Markus Bernhardt
Mit seiner
Schrift Nationalsozialismus und Homosexualität reagierte
Michael Kühnen auf den Mord an seinem Gesinnungsfreund, dem 26-jährigen
Johannes Bügner, der am 28. Mai 1981 von vier seiner Kameraden
ermordet worden war. Der schwulenfeindlich intendierte Mord an Bügner
hatte nicht zuletzt wegen seiner Bestialität Bügner war aus
der Schwulenbar Can-Can gelockt und später durch 21 Messerstiche
getötet worden ein ungewöhnlich großes Medienecho bis
hinein in die Schwulenpresse gefunden. Wie sich erst nach der Tat herausstellte,
hatte sich einer der Täter, Michael Frühauf, nur einen Tag vor dem
Mord dem Hamburger Staatsschutz für eine Prämie in Höhe von
500 Mark als Mitarbeiter verpflichtet.
Nur eine
Woche vor seiner Tat hatte Frühauf im Infoblatt der Aktionsfront
Nationaler Sozialisten/Nationale Aktivisten (ANS/NA) sowohl den Ausschluß
Bügners als auch des der Päderastie verdächtigten
Philipp Sch. aus der ANS/NA gefordert. Bis zur Veröffentlichung von Kühnens
Papier fünf Jahre später war es in Neonazi-Organisationen und bei
ihren Anhängern unabdingbarer Konsens, daß Homosexuelle in ihren
Reihen nichts zu suchen hätten. Homosexualität galt als widernatürlich.
Das sollte sich durch Kühnens Schrift in einzelnen Nazi-Organisationen
zumindest zeitweise ändern.
Während Kühnen sein Ende 1986 erschienenes Werk dem Blutzeugen unserer Bewegung widmete, bereuten Bügners Mörder die Tat vor dem Lübecker Landgericht nicht; dieser sei ein Verräter und Schwuler gewesen. Sie wurden zu mehrmonatigen, zwei zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt. Kühnen betonte in einem Brief an seinen ebenfalls schwulen Nazi-Kameraden Michel Caignet dem späteren Herausgeber von Kühnens Schrift , er sei nach dem Bügner-Mord zunächst davon ausgegangen, daß die Verurteilung des Mordes und das Bekenntnis zu Bügner in der gesamten Bewegung überwältigend und einmütig sei. Doch habe er schon bald feststellen müssen , daß genau das Gegenteil der Fall war.
Gautreffen
gegen die Homosexualität
Denn die
von Kühnen gegründete Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front
(GNF) nutzte die Inhaftierung ihres Anführers Kühnen, um auf ihrem
Gautreffen am 19. Juli 1986 im nordrhein-westfälischen Grevenbroich
eine neue politische Linie zu beschließen, die den Kampf gegen Homosexuelle
proklamierte. Nahezu die komplette Führungsebene der bundesdeutschen
Neofaschisten unterzeichnete daraufhin ein Anti-Homosexuellenmanifest,
in der jeder Homosexuelle als Verräter am Volk bezeichnet
wurde. Das Manifest erschien im August desselben Jahres in dem GNF-Organ Neue
Front Publikation des nationalen Widerstands.
Daraufhin
verließ Michael Kühnen am 4. August 1986 die GNF und verbot seinen
(nunmehr ehemaligen) Kameraden die Nutzung seines Namens sowohl in Bezug auf
die Organisation als auch auf die von ihr herausgegebenen Publikationen. Es
geht mir nicht darum, über Homosexualität zu diskutieren; da mag
jeder seine Privatmeinung haben und behalten. Mich interessiert das politisch
so wenig wie die Frage, ob jemand Biertrinker oder Antialkoholiker, Fleischesser
oder Vegetarier, Raucher oder Nichtraucher ist. Über all das kann man
seine feste Meinung haben und entsprechend leben, aber es ist einfach Wahnsinn,
sich über solche Dinge zu zerstreiten, wenn wir einer Welt von Feinden
gegenüberstehen und alle Kräfte zum Kampf brauchen. Allein darum
geht es mir. Und in dieser Hinsicht teilt die neue Führung nicht mehr
unsere jahrelange Haltung. Ich habe von Beginn an und bewußt niemals
gefragt, welche Bett-, Trink- oder sonstigen privaten Gewohnheiten und Anlagen
ein Kamerad mitbringt, sondern ob er sich im Kampf bewährt. Diese Haltung
wird nunmehr als Verrat bezeichnet. Das kann und will ich nicht
hinnehmen!, begründete Kühnen seinen Austritt aus der GNF.
In Nationalsozialismus
und Homosexualität beschreibt Kühnen den gleichgeschlechtlichen
Verkehr als natürliche, biologische Veranlagung, für
die er die Toleranz seiner Kameraden einfordert. Zwar reagiere der Nationalsozialismus
auf Probleme, die sich aus der kulturellen Entwicklung des Menschen ergäben,
mit Erziehung zu entwicklungsfördernder und insgesamt naturgemäßer
Lebenshaltung und durch unbarmherzigen Kampf gegen alle Erscheinungen, die
Arterhaltung und Artentfaltung bedrohen würden, jedoch könne
man sich gegenüber Sachverhalten, die sich weder positiv noch negativ
auswirkten, neutral verhalten. Zur Stützung seiner These
verweist er unter anderem auf homosexuelle Handlungen im Tierreich
eine Argumentation, die Kühnen im Kreise erlesenen Herrenmenschentums
kaum begeisterte Anhänger zugeführt haben dürfte.
Jüdisch-christliche
Leibfeindlichkeit
Es sei
festzustellen, daß Homosexualität egal ob sie geächtet,
geduldet oder gar positiv angesehen ist immer vorhanden sei,
da die Kulturen zwar die Lebensbedingungen der Homosexuellen, nicht
aber die Existenz der Homosexualität beeinflussen könnten.
Auch stellt sich Kühnen gegen alle Erscheinungsformen von Spießer-Moral,
wozu er auch blödsinnigen Schwulenhaß zählte.
Ziel des Nationalsozialismus sei daher die Überwindung der uns
umgebenden dekadenten Lebenswirklichkeit, um eine gesunde Hochkultur
zu errichten und nicht, um spießbürgerliche Prüderie
oder jüdisch-christliche Leibfeindlichkeit wiederzubeleben. Damit
begab sich Kühnen in deutlichen Widerspruch zur alt-nazistischen Ideologie,
die das aus der vorstalinschen Sowjetunion stammende, in den sexuell liberalen
Zeiten und linken Emanzipationsbestrebungen der Weimarer Republik beliebte
Konzept der Freien Liebe, die Promiskuität und gerade auch die Homosexualität
stets als Ausfluß jüdisch-bolschewistischer Verlotterung
und sittlicher Verwahrlosung gegeißelt hatte. Kühnens antisemitischer
Reflex manifestierte sich nunmehr im genauen Gegenteil: Er charakterisierte
den Haß auf Homosexuelle als jüdisch-christliche Massenneurose,
die den ursprünglich art- und naturgemäßen arischen
Hochkulturen unbekannt gewesen sei eine gewagte Behauptung, die
von der Ethnologin Gisela Bleibtreu-Ehrenberg erst 1978 in ihrer weit verbreiteten
Studie Tabu Homosexualität. Die Geschichte eines Vorurteils
hinreichend widerlegt worden war.
Homosexualität
als nationalsozialistischer Leitsatz
Kühnen
bemüßigt sich im weiteren einer Kette biologistischer, sozialdarwinistischer
und völkischer Argumentationen. So gelangt er unter anderem zu der Schlußfolgerung,
daß Homosexualität von der Natur dazu bestimmt sei, einer
kleinen Anzahl von Männern zu ermöglichen, sich völlig unbeeinflußt
von persönlichen Interessen ganz der kulturellen Entwicklung und dem
Dienst an der Gemeinschaft zu widmen. Die Homosexualität entspreche
daher seiner Meinung nach dem nationalsozialistischen Leitsatz
Du bist nichts, Dein Volk ist alles!, da sich homosexuelle Männer
zwar mit ihrer naturgegebenen Neigung der Fortpflanzung des arischen Volkskörpers
entzögen, aber die kulturelle Entwicklung der Herrenrasse
befördern könnten. Dies könnten Homosexuelle beispielsweise
in sogenannten Männerbünden leisten.
Als ein
Vorbild in Bezug auf Männerbünde, derer es in seinen Augen für
eine kulturelle Entwicklung einer Gesellschaft bedurfte und bedarf,
sah Kühnen die katholische Kirche. Wenn wir auch als Nationalsozialisten
ihre ideologischen Zielvorstellungen zumeist nicht teilen können, ist
sie doch als Organisationsform ein bislang unerreichtes Vorbild und Beispiel,
da sie über eine unvergleichliche Erfahrung in der Führung,
Erziehung und Beeinflussung menschlicher Gemeinschaften verfüge.
Kühnen begrüßt daher die organisatorische Trennung von Frauen
und Männern sowohl bei den Katholiken als auch in der NSDAP. Mehr oder
minder offen plädiert er dafür, eventuelle homosexuelle Neigungen
Einzelner für die eigenen Zwecke zu benutzen.
AIDS
durch Rassenschande
Kühnen
beruft sich bei diesem Ansatz neben der Organisation der katholischen Kirche
vor allem positiv auf die Armee von Sparta. Diese hatte homosexuellen Neigungen
der Soldaten durchaus positiv gegenübergestanden, um so den Kampfgeist
in der Truppe zu stärken. Vorhandene homosexuelle Liebschaften sollten
dazu dienen, das Gemeinschaftsgefühl der Kämpfer zu stärken
und sie aufgrund persönlicher Bindungen an Flucht oder beispielsweise
Verrat zu hindern. Ab dem 35. Lebensjahr verlangte die spartanische Armee
jedoch von ihren Soldaten, zu heiraten und sich um die Fortpflanzung zu bemühen,
um den Fortbestand der Gemeinschaft zu sichern.
Wahrscheinlich
nicht zuletzt aufgrund seiner eigenen HIV-Infektion befaßt sich Kühnen
abschließend auch mit der erst kurze Zeit bekannten, noch weithin als
Schwulenseuche deklarierten Immunschwächekrankheit AIDS,
der er prognostiziert, sie werde schon bald eine normale Geschlechtskrankheit
ähnlich der Syphilis sein. Im Gegensatz zu der auch heute noch maßgeblich
unter bibeltreuen neofaschistischen Gruppen verbreiteten Ansicht,
gelangt Kühnen zum Schluß, daß AIDS keine Strafe des jüdisch-christlichen
Gottes an den Homosexuellen sei, sondern erst aufgrund sexueller Kontakte
verschiedener Rassen nach Europa importiert worden sei. Diese
an das nationalsozialistische Konstrukt der Rassenschande anknüpfende
Sichtweise wurde von vielen rechten Gruppierungen übernommen und wird
bis heute von ihnen so vertreten.
Kühnens
Nationalsozialismus und Homosexualität kam nicht zuletzt
im Kontext einer in den achtziger Jahren überaus agilen Schwulenbewegung,
der sich selbst rechte Gruppierungen nicht durchweg entziehen konnten
für die neofaschistische Bewegung dieser Zeit durchaus eine gewisse Notwendigkeit
und Bedeutung zu. Eine besondere Rolle spielt die Schrift in der rechten Szene
heutzutage jedoch nicht mehr, selbst wenn sie einzelnen der immer öfter
auch offen auftretenden schwulen Neofaschisten oder sich unerkannt in der
Schwulenszene tummelnden Nazi-Skinheads als ideologische Coming-out-Hilfe
dienen mag.
Mit dem
Tod Kühnens scheinen sich die Wogen der Auseinandersetzung um das Thema
Homosexualität in der militanten Naziszene geglättet zu haben. Diese
präsentiert sich nun, zumindest offiziell, in der einheitlichen Ablehnung
von homosexuellen Lebensentwürfen, was sie wohl mangels geeigneter Kader
und aus taktischen Erwägungen heraus auch in naher Zukunft so beibehalten
dürfte. Grundsätzlich spricht dies aber nicht gegen die neuerliche
Propagierung eines schwulenfreundlichen Faschismus, wie ihn Michael
Kühnen erdachte und vorlebte. Indes: Zu seiner eigenen Sexualität
hat er sich nie öffentlich geäußert.
Sowohl
inner- als auch außerhalb der Neonaziszene galt Kühnen als schillernde
Figur. Bereits als 14-Jähriger hatte er den Weg in die Neonaziszene
gefunden und avancierte schnell zum Schülersprecher der NPD in Bonn.
Die Partei verließ er, um sich der Aktion Widerstand anzuschließen,
die mit der Parole Herbert Wehner, Willy Brandt, Volksverräter
an die Wand! von sich reden machte. Aus taktischen Gründen wird
Kühnen kurzzeitig Mitglied der CDU-Jugendorganisation Junge Union,
die er jedoch nach nur wenigen Wochen von sich aus wieder verläßt.
Im Jahre 1971 wird er Zeitsoldat bei der Bundeswehr und studiert an der Bundeswehr-Universität
in Hamburg. Erst 1977 wird er aufgrund seiner neofaschistischen Aktivitäten
aus der bundesdeutschen Armee entlassen von seinen Vorgesetzten und
Bundeswehrkameraden als Demokratie- und Staatsfeind unerkannt, hatte er es
bis dahin immerhin bis zum Leutnant gebracht.
Zweite
Revolution im Knast
Ausgerechnet
am 8. Mai 1977 gründete Kühnen gemeinsam mit zwei Gesinnungsgenossen
die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei/Auslands- und Aufbauorganisation
(NSDAP/AO). Auch an der Gründung der Aktionsfront Nationaler Sozialisten
(ANS) am 26. November 1977 in Hamburg war er federführend beteiligt.
Im Laufe seiner Kariere wurde Kühnen mehrfach zu Haftstrafen verurteilt,
die er meist nutzte, um diverse Thesenpapiere zu verfassen, etwa Die
zweite Revolution, Das politische Lexikon der Neuen Front
oder eben die überwiegend auf ungeprüften Alltagstheorien basierende,
in sich jedoch geschlossen argumentierende Schrift Nationalsozialismus
und Homosexualität. Zudem verfügte er über ein gewisses
Charisma und rhetorisches Talent und verstand es im Gegensatz zu vielen
heute aktiven Kadern der rechten Szene , als Redner Menschen für
seine Ziele zu begeistern.
Als Vorbild diente Kühnen über die gesamte Zeit seiner politischen
Laufbahn hinweg der SA-Führer Ernst Röhm, der auch noch heutzutage
in den Augen mancher Neofaschisten, dem linken Flügel der
NSDAP zuzurechnen war was immer das sein soll. Wie Röhm hoffte
auch Kühnen auf eine Beseitigung des liberalkapitalistischen Systems,
durch gewaltige revolutionäre Ströme von rechts und links
und wäre somit heute in der rechten Szene dem sogenannten Querfrontspektrum
zuzurechnen.
Kühnen war der erste Neofaschist, der sich nach 1945 dem Themenbereich
Homosexualität weitgehend bejahend widmete. Seine fast 70 Seiten umfassende
und durchweg ohne Quellenangaben auskommende Schrift reicht allerdings nicht
über einen sehr begrenzten propagandistischen Wert hinaus. Um die links-alternative
Homosexuellenbewegung der 80er Jahre macht Kühnen einen weiten Bogen,
und über die Homosexuellenverfolgung im Tausendjährigen Reich
findet sich in der Schrift verständlicherweise kein einziges
Wort. Stattdessen rät Kühnen seinen arischen Mitstreiten, ihren
kostbaren Samen im Zweifelsfalle lieber einem deutschen Kameraden zu schenken
als ihn an ein rassisch minderwertiges Weib zu verschwenden.
Dummerweise hat es Kühnen zu Lebzeiten versäumt, wenigstens einen ideologischen Nachfolger für seine Ansichten zur Homosexualität zu zeugen. Am 25. April 1991 folgte er seinem großen Vorbild Ernst Röhm nach Walhalla.