Altjungferlich,
jung und englisch
Die zwanghafte Lüge,
die Mythomanie, ist das erste Mittel des Schriftstellers. In der Medizin gilt
sie als Zeichen für kognitive und psychoaffektive Unreife, als narzißtische
Persönlichkeitsstörung; den Betroffenen fällt es schwer, Reales
von Imaginärem zu unterscheiden. Der Roman jedoch freut sich an der Fabuliersucht
seiner Meister, das Adelsgeschlecht derer von Münchhausen hält die
Hand über ihn. Wie aber steht es um die Autobiographie? Wieviel Lüge
verträgt sie? Genauer: Wieviel Lüge verträgt die Autobiographie
als Roman? Denn genau dies macht Christopher Isherwood mit seiner erstmals
1938 erschienenen Biographie Löwen und Schatten. Wie Edward
Upwards autobiografische Trilogie The Spiral Ascent, wie Albert
Camus Der erste Mensch schreibt Isherwood einen Roman der
realen Begebenheiten a novel of fact. Sein Stoff: etwas Schule, etwas
Studium, etwas Bohème und viel Britishness. Eine englische Jugend
in den zwanziger Jahren.
Alles, was der Kontinentale
sich ganz und gar englisch denkt, hat denn auch seinen Auftritt: Tweed-Jackets
und Pfeifen, Bridge, Golf und Rudern, nicht ziehende Kamine, Debattierclubs,
Collegegespenster, und auch Trimesterfeiern mit Butterschlachten die
Welt der diplomierten Inselexzentriker en gros. Und so sehr auch die patentiert-parfümierten
Mundwasser erfreuen mögen, das blutsaugerisch blasierte Ungeheuer
Cambridge amüsiert es lockt nicht wirklich. Auch dann nicht,
wenn über die Ritterlichkeit in der englischen Literatur
extemporiert wird, während man wohlgefällig Mitschüler züchtigt
Ich glaube nicht, daß ich ihm sehr wehgetan habe.
Was die Aufzucht von Autorität durch institutionalisierte Gewalt und
Demütigung, diese ganze paramilitärische Hackordnung der Colleges,
wirklich bedeutet, in welche Abgründe sie führen kann, privat und
gesellschaftlich, das sollte uns erst viel später beigebracht werden
besonders scharf in Lindsay Andersons Film If. Kein Wort
davon bei Isherwood, kein Ahnen, kein Argwöhnen, das Massaker von Columbine
ist fern.
Aber das Dichten, und
die Dichter! Zuallererst Mortmere, das ist Englishness at its best. Zwei hochfahrende
Cambridge-Jünglinge, Isherwood und Allan Chalmers, phantasieren sich
eine Andere Stadt. Mortmere, das ist ein aus Dürers Melencolia
I entwachsenes Pandämonium schrulliger Figuren, als Gegenwelt erbaut
zum Ennui des Studierens, eine literarische Kreuzung aus Tim Burton und Terry
Gilliam und gleichzeitig so etwas wie die Geburt des Schriftstellers aus dem
Geist des höheren Unfugs. In Mortmere bevölkern skurrile Wesen skurrile
Räume: paralytische Säuglinge, engelzüchtende Pfarrer, auf
Einbruch dressierte Schlangen, in Nekrophilenbordellen und Rattenhospizen,
allesamt surrealistisch verzerrt und ineinander verwoben, spleenig, bukolisch,
obszön, und vor allem: rattenhaft das höchste
Lob. Le mot juste ist die Lösung aller Probleme. Hitler putscht gerade
in München.
Allan Chalmers, das ist Edward Upward. Und so, wie sich hinter Chalmers, mit dem Isherwood eine Art geheimbündlerische Gesellschaft für gegenseitige Bewunderung bildet, Edward Upward verbirgt, der poetisch-revolutionäre Dichter von Reise an die Grenze, so heißt Hugh Weston, dieser ungewaschene, frühreif-altkluge Typ mit der überlegenen Unanständigkeit, eigentlich W. H. Auden, Englands späterer poeta doctus von allen Gnaden. Neben der Freak-Menagerie Mortmere sind es vor allem die wie beiläufig hingeworfenen Portraitminiaturen der literarischen Weggefährten Isherwoods, der sogenannten Auden-Generation, die begeistern.
Stephen Spender, alias
Stephen Savage, war ein Freundesgenie von tobender Fröhlichkeit
es war wie die Umarmung eines enormen Bären.
Und natürlich ist Löwen und Schatten auch eine éducation
sentimentale, zuvorderst die eines Schriftstellers. Von der Chimäre Mortmere
im Stich gelassen die pubertär-manirierten Concetti tragen nicht
mehr , gilt es, erwachsen zu werden als Künstler. Der zeitweilig
übergeworfene schwarze Byronsche Exilantenmantel wird abgelegt,
der neurotische, gingetränkte Jüngling, der sich in dramatisch-düsterer
Dichterpose gefällt und den Roman als Taschenspielerei begreift,
lernt Adjektive zu zügeln und die Fallstricke des Romanciers zu umgehen.
24 Jahre alt ist Isherwood, da erscheint sein erster Roman und
die Straßen waren voll flatternder Fahnen.
Und die Lüge? Wie
steht es um das Lügengespinst, das Mythomane in dieser Autobiographie,
in diesem Roman? Wenn wir E. M. Forster folgen, der auf die Frage,
was einen Roman ausmache, so wunderbar unliterarisch antwortet: Yes
oh dear yes the novel tells a story, dann müssen
wir Isherwood enttäuschen: Nein, eine Geschichte erzählt er nicht,
so oft er auch fiktive Namen verteilt und sich selbst in dritter Person als
Romanfigur gestaltet. Wenn aber einen Roman schreiben heißt, lügen
zu können, um die Wahrheit zu sagen, dann soll Isherwoods Autobiographie,
in der wohl, wie in jeder Selbstbetrachtung, Realität und Imagination
gehörig vermengt werden, einzig um das Geheimnis des Lebens geschickt
zu verhüllen, getrost als Roman gelesen werden selbst wenn der
Charme des Banalen einen dafür etwas zu oft in den Bann zieht.
Ach ja, noch eins: der
Sex. Schließlich geht es um eine recht testosterone Zeit, das Mannesalter
zwischen 17 und 24. Es gibt ihn nicht. Spröde und altjüngferlich
lebt er in London und Cambridge dahin, zu dick noch sind die Eisschichten
puritanischer Erziehung. Seine Freunde: Du stirbst noch als ängstlicher
verrunzelter Peter Pan. Am 14. März 1929 jedoch, das Datum markiert
das Ende von Löwen und Schatten, reist Isherwood mit dem
Nachmittagszug nach Berlin; er will ein unartiger Junge werden. Und es wird
ihm gelingen in dieser erstaunlich lasterhaften und doch im Grunde
so respektablen Stadt.
Ingo
Flothen
Christopher Isherwood: Löwen und Schatten Eine englische Jugend in den Zwanziger Jahren. Aus dem Englischen von Joachim Kalka. Berenberg Verlag, Berlin 2010. 320 Seiten, 25,00 Euro.