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Inzest in Saarbrücken

Acht Jahre nach der Fachtagung „Wider das Vergessen“ zur Verfolgung von Homosexuellen im „Dritten Reich“ gab es im Dezember 2004 wieder einen sexualwissenschaftlichen Kongreß in Saarbrücken. Darüber, warum auf Einladung der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) jedoch nicht Hunderte von Perversen, sondern lediglich etwa fünfzig Teilnehmer aus einem vorwiegend akademischen Milieu die „Sexuelle Demokratie“ willkommen hießen und sich am Ende dann doch wieder niemand das neue Label „queer“ anziehen wollte, berichtet Dirk Ruder

Irgendwann um 1702 beschließt Catharina Linck ein Mann zu sein. Sie schnallt sich einen Lederdildo um, zieht Männerkleidung an und läßt sich auf den Namen Anastasius Rosenstengel taufen. Als Soldat nimmt er/sie am Spanischen Erbfolgekrieg teil, es folgen Anstellungen als Hut- und Strumpfmacher in Halle und Halberstadt. Erst rund zwanzig Jahre später wird die als Mann auftretende Linck im Mai 1720 wegen Sodomie vor das Inquisitionsgericht in Halberstadt gestellt. Die „Land- und Leute-Betrügerin“ stirbt am 8. November 1721 durch das Schwert. Den Fall ins Rollen brachte ausgerechnet die eigene Schwiegermutter. Vier Jahre vor der Hinrichtung war Catharina Linck nämlich in der Kirche St. Paul zu Halberstadt in den heiligen Stand der Ehe eingetreten – mit einer Frau. Die juristische Fachwelt stand Kopf.

Unter anderem der von Referentin Angela Steidele (Köln) aufgeworfenen der Frage, ob Linck/Rosenstengel „als Lesbe, Stonebutch oder Transmann anzusehen“ sei, widmete sich Anfang Dezember in Saarbrücken eine Konferenz „zu den Anderen Geschlechtern und Sexualitäten“. Für den 2. und 3. Dezember eingeladen, um über die „Sexuelle Demokratie“ zu debattieren, hatten die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) sowie der Bremener Soziologe und Sexualforscher Rüdiger Lautmann. „Die alten Einheitsformen sterben aus – Vielfalt ist jetzt gefragt“, lockte die bpb zum Austausch über angeblich neue Geschlechterverhältnisse. „Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transidente und Intersexuelle haben sich zu einer Koalition zusammengefunden: LSBTI heißt das neue Bündnis, von dem starke Impulse ausgehen werden“. Die Zeit drängte wohl: „Wir müssen in den kommenden Jahrzehnten eine ganze gender agenda abarbeiten. Viele neue Begriffe verwirren die vertrauten Orientierungen, darunter etwa Gender-Mainstreaming, Transgender, Diversity“.

Wo allein die Ausrufung eines neuen Begriffs die Geburt einer nie dagewesenen sexuellen Orientierung verheißt, sind freilich Zweifel an der Seriosität eines solchen akademischen Events angebracht. Zumal die Organisatoren im Vorfeld annoncierten, die sexuelle Revolution des 20. Jahrhunderts sei „abgeschlossen und die formale Gleichberechtigung der Geschlechter vollzogen“. Dem widersprach zumindest Dr. Vera Slupik (Berlin). Ihre in der Sektion „Lebensformen in der Spätmoderne“ vorgetragene „Kritik an der Verrechtlichung von (gleichgeschlechtlichen – D.R.) Lebenspartnerschaften“ entglitt der Dozentin jedoch bald in eine pauschale, von offenkundigen Fehlinformationen über den Islam begleiteten Attacke gegen die drohende „Orientalisierung“ der Republik. So war recht früh für den ersten Eklat gesorgt.
Nicht nur der über Promiskuitätsdebatten in der britischen Homo- und Bisexuellenszene referierende Christian Klesse (Univerity of Keele) zeigte sich über die von der Rechtsfeministin im Zusammenhang mit Berlin-Kreuzberg gebrauchten Vokabel „Klein-Istanbul“ entsetzt. Eine ursprünglich geplante Sektion zum Rassismus hätte, „unbedingt auf diesen Kongreß gehört“, mahnte Klesse, der sich im übrigen nicht ohne weiteres für die Heilsversprechungen der von Teilnehmern als „inzestuöser Wissenschaft“ charakterisierten Queer Theory einspannen lassen wollte. Jene in Saarbrücken gefeierte neoliberale Ideologie gilt derzeit an westlichen Universitäten als der letzte Schrei in Sachen sex und gender. Der Queer Theory zufolge seien Kategorien wie Geschlecht und Sexualität unter einem nicht-heteronormativen, sprich: „queeren“ Blickwinkel zu betrachten. Am Ende stehe die gemeinsame politische Aktion – eine Armee der Queers.

Wird die Queer Theory von der Queer Theologie überholt?

Daß ein solches seit Jahren herbeiphantasiertes „LSBTI-Bündnis“ bislang nirgendwo gesichtet worden ist, schert die Queer-Propheten kaum. Kritiker weisen zudem auf das zweifelhafte wissenschaftliche Verdienst der Queer Theory hin, den Menschen als gesellschaftliches Subjekt konsequent von der Gesellschaft separiert zu haben, in der er/sie/es sexuelle Wünsche zu verwirklichen trachtet. In der Saar-Metropole war derlei Ketzerei allerdings nur am Rande zu vernehmen; stattdessen watete die versammelte Expertenriege inbrünstig durch eine nichtssagende Vielfalt: „Flexible Sexualitäten – fragliche Identitäten“, „Queering und LSBT-Geschichte“ sowie „Queering gender oder Sexuelle Identitäten“.

Als nicht minder esoterisches Kontrastprogramm erwies sich eine Sektion, in der doch tatsächlich die „Pluralisierung des Wahrheitsverständnisses in der Queer Theologie“ erörtert wurde. Wie die Queer Theory scheint sich auch deren christlicher Bastard als Theologie der Befreiung zu verstehen – Befreiung nicht vom, sondern im Glauben. Man hätte der Sektion „Wie die Theologie LSBT einholt“ besser das Motto „Überholen ohne einzuholen!“ verpaßt.
Vielleicht war es höhere Fügung, daß der Themenschwerpunkt über „schwullesbische Emanzipation in illiberalen Gesellschaften“ am „Fall DDR“ dann doch nicht verhandelt wurde. Möglicherweise fand sich einfach kein Referent, der sich mit solchem Ost-Mumpitz die akademische Karriere versauen wollte. Zumal die Veranstalter damit zu klären gedachten, ob sich aus den Erfahrungen von sexueller Emanzipation in „vier Jahrzehnten einer Einparteiendiktatur“ nicht „vielleicht sogar etwas lernen“ ließe „für die Situation von Schwellenländern, etwa im islamischen Bereich, in Asien und in Afrika“. Kommunisten, Moslems, Neger – in Saarbrücken alles eine Soße.

Zudem hatte ein vor acht Jahren vom gleichen Personal organisierter Kongreß zur Verfolgung Homosexueller im „Dritten Reich“ die politische Farbenlehre wesentlich besser beherrscht. Anno 2004 schien es hingegen beinahe so, als ob der Unterschied zwischen SED und NSDAP die einzige Grenze sei, die die Queer-Theory niederzureißen in der Lage ist. Ob das der Grund dafür war, die „sexuelle Person Adolf Hitler und ihre historisch-politische Funktion“ zu thematisieren, kann nicht beantwortet werden, da Hauptreferent Prof. Lothar Machtan (Bremen) wegen Hexenschuß absagte. Zu gern hätte man doch erfahren, was „eine angenommene Homosexualität von A. Hitler zur Erklärung des NS-Regimes“ beiträgt – der Führer soll ja Operetten so geliebt haben. Immerhin legte Andreas Pretzel von der Berliner Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft (MHG) seine keineswegs uninteressanten Forschungen über homosexuelle Funktionäre in der Berliner SA dar. Nach Pretzel haben schwule Männer in Berlins traditionellem Schöneberger Schwulenkiez munter bei der SA mitgemischt. Das SA-Sturmlokal am Nollendorfplatz erfreute sich in der Homoszene einiger Beliebtheit und befand sich – Pikanterie am Rande – genau dort, wo heute das Schwule Überfalltelefon residiert.

Leider war es ebenfalls Pretzel, der noch am ersten Kongreßtag für den zweiten Eklat sorgte, als er eine von seinem MHG-Kollegen Ralf Dose öffentlich geäußerte Denunziation wiederkäute: Gigi habe sich „ein halbes Jahr lang eines ‘Stürmer’-Stils“ gegen die Hirschfeld-Gesellschaft bedient, so nun auch Pretzel (vgl. Gigi Nr. 30, S. 36 und Nr. 28, S. 20ff.) Die Stimmung wurde daraufhin derart hysterisch, daß sich im weiteren Verlauf nahezu jeder Redner genötigt sah, zunächst ein Statement über die – nach Saarbrücken offiziell gar nicht eingeladene – Gigi anzugeben. Eventuell könnte ein zukünftiger Kongreß ja die Frage beraten, ob ein antifaschistisches Periodikum wie Gigi nicht möglicherweise sogar eine „illiberale“ Zeitschrift darstellt – damit in der Fachwelt abschließend klargestellt würde, wo im Namen des von den Nazis vertriebenen jüdischen Sanitätsrats Dr. Magnus Hirschfeld die Sexuelle Demokratie in Deutschland ihre Grenzen findet.