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Dieses Individuum


Jay Neill starb am 12. Dezember um 18.17 Uhr im Gefängnis von McAlester. Der 37-Jährige war 2002 der sechste Exekutierte in Oklahoma, der 133. seit 1915 und der 54. mit Injektion Getötete. Die Jury, alle Berufungsinstanzen, zuletzt der Gouverneur hätten den Staatsmord verhindern können. Doch sie alle legitimierten die Strategie des homophoben Staatsanwalts. Die Fakten von amnesty international (1) ergänzte Eike Stedefeldt

Mit gerade mal 18 Jahren wurde Jay Wesley Neill 1983 Berufssoldat. Doch schon im Sommer 1984 entließ ihn die US Army, nachdem seine Homosexualität bekannt geworden war. Ohne Job, gerieten er und sein Partner Robert Johnson (21), in Schwierigkeiten. Angesichts Tausender Dollar Schulden beschlossen sie, die Bank im 990 Seelen-Nest Geronimo an der Grenze zu Texas auszurauben. Beim Überfall am 14. Dezember 1984 wurden drei Angestellte erstochen und vier Kunden angeschossen; einer erlag später den Verletzungen. Die Polizei verhaftete Neill und Johnson am 17. Dezember 1984 in San Francisco. 1985 zum Tode verurteilt, hob der Berufungs-Strafgerichtshof Oklahomas die Urteile jedoch 1992 wieder auf: Den Angeklagten hätte gesondert der Prozeß gemacht werden müssen. Johnson bekam im zweiten Verfahren eine lebenslange Freiheitsstrafe ohne die Option einer vorzeitigen Entlassung.

Als sich Neills zweiter Prozeß 1992 dem Ende näherte, erklärte er den Geschworenen, er erwarte kein Mitgefühl, und an die Familien der Opfer gewandt: „Es tut mir leid, es tut mir leid. Es frißt mich auf und das ist wohl Teil meiner Strafe ... Ich wünschte, ich könnte etwas sagen, um es gut zu machen. Aber das geht leider nicht.“ Zuvor war auch der frühere Mißbrauch durch den Vater und später den Stiefvater zur Sprache gekommen. Diesen besonders in Verfahren gegen zur Tatzeit noch jugendliche Täter entlastenden Fakt konterte der Staatsanwalt im Schlußplädoyer an die Jury jedoch auf seine Weise: „Denken Sie kurz über den Mann nach, über den Sie urteilen sollen und dessen adäquate Strafe Sie bestimmen sollen. Bedenken Sie dabei ein paar Dinge, die seine wahre Persönlichkeit beschreiben, was für eine Person er ist. Er ist ein Homosexueller, die Person, über die Sie urteilen – abgesehen davon, daß er Jay Neill ist. Sie entscheiden über Leben und Tod einer Person, die sich völlig der Homosexualität verschworen hat. Mit diesen Dingen befaßt man sich halt, wenn man eine Person beurteilen will, über die man zu Gericht sitzt. Dieses Individuum ist ein Homosexueller!“ Das Urteil lautete: Todesstrafe.

„Ich wünschte, ich hätte mehr vomLeben gewußt, als ich ein verwirrter 19-Jähriger war.“
Im August 2001 kam der Fall vor den United States Court of Appeals for the Tenth Circuit. Carlos Lucero, einer der drei Berufungsrichter, erklärte im Gegensatz zu seinen Kollegen: „Die Art und Weise, wie der Staatsanwalt im Prozeß in eklatanter Weise homophoben Haß geschürt hat“, so Lucero, „gehört nicht in den Gerichtssaal einer zivilisierten Gesellschaft“. Und weiter: „Diese Auslassungen lassen nur einen Schluß zu: Unter anderem sollte Neill deswegen getötet werden, weil er schwul ist! Ich kann mich dem Urteil nicht anschließen, denn ich vertraue keinem Verfahren, das auf dem Verlangen eines Staatsanwalts beruht, die Geschworenen mögen die Todesstrafe verhängen zumindest teilweise wegen dessen, was die Person ist, und nicht dessen, was sie getan hat.“ Der Court einigte sich auf die letztmalige Überprüfung seiner Entscheidung. Zwar bewerteten auch jene Richter, die für Neills Exekution gestimmt hatten, die Auslassungen des Staatsanwalts als „unangebracht“ und „ohne legitime Rechtfertigung“, sprachen ihnen aber Einfluß auf den Prozeßausgang ab. Lucero plädierte erneut dagegen: „Warum sind diese Kommentare [des Staatsanwalts] nicht einfach nur unangebracht, sondern mehr? Staatsanwälte wissen, daß Schwulen und Lesben allerorts in der Gesellschaft grundsätzlich mit Vorurteilen begegnet wird. Ein offen schwuler Angeklagter ist daher bereits vom Beginn der Strafverfolgung an benachteiligt. Beeinflußt ein Staatsanwalt die Geschworenen dahingehend, die Schuldfrage oder die Frage Leben oder Tod auf Basis anti-homosexueller Voreingenommenheit zu entscheiden, wird dieser Nachteil exponentiell vervielfacht und verfassungsrechtlich bedenklich. Das ist deshalb so, weil Staatsanwälte eine Vertauensposition bekleiden und ihre Ermahnungen bei Geschworenen großes Gewicht haben. Die Rechtfertigung dieser Art Bemerkungen war zweifellos illegitim. Der Staatsanwalt untergrub die Möglichkeit, ein auf Verstand statt auf Emotionen basierendes Urteil zu fällen, indem er seine Vertrauensposition mißbrauchte und die antischwulen Vorurteile an neuralgischem Punkt in der Phase der Urteilsfindung über Leben oder Tod katapultierte.“

Jay Wesley Neill reichte kein Gnadengesuch ein. Der Gouverneur hätte Vollstreckungsaufschub gewähren und damit die Umwandlung in eine Freiheitsstrafe erwirken können angesichts weltweiter Proteste gegen ein Urteil, das unter offenem Bruch der UN-Richtlinien über die Rolle von Staatsanwälten zustande kam. Diesen zufolge sollen Staatsanwälte ihre „Aufgaben fair, konsequent und prompt erfüllen, die Menschenwürde achten, die Menschenrechte wahren“ sowie „ihre Funktion unparteiisch ausüben und jegliche politische, gesellschaftliche, religiöse, kulturelle, sexuelle oder jegliche andere Art von Diskriminierung unterlassen“. Frank Keating, Gouverneur von Oklahoma, hat es nicht getan.1 Der Artikel basiert auf einem amnesty-Aktionsappell (vgl. www.ocadp.org/action/alerts.html)