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Im Puff mit Adorno


Der Vorname Ole ist hierzulande im Zusammenhang mit Sexualität und Politik neuerdings einschlägig bekannt. Nur wenige wissen aber, daß es der einzige Rufname ist, den es sowohl in Deutsch als auch in Thai gibt. Auch „La“ ist hier wie dort eine häufige Anfangssilbe von Familiennamen, während „dudd“ soviel wie „Homosexueller“ bedeutet. Das alles hat allerdings nur mittelbar zu tun mit dem philosophischen Essay zu Sexualitäten, Geschlechtern, Religion und Prostitution im „größten Puff Asiens“ unseres Korrespondenten Ole Ladudd

Der homosexuelle links-bildungsbürgerliche Betrachter thailändischer Gogo-Verhältnisse könnte den Verdacht hegen, es handele sich dabei um Zustände, in denen sich durchaus auch karge Aspekte beschädigter Utopie aufweisen ließen. Sich seiner Körperhaftigkeit lustvoll inne zu sein, ohne die christliche Furcht, die in der bürgerlichen Gesellschaft sublimiert wurde, entspricht nicht westlicher Tradition. Im thailändischen Gogo-Betrieb zeigt sich eine verblüffende Leichtigkeit der käuflichen Liebe und des Sexes, die einen andere Gebräuche vermuten läßt.

Daß Sex nicht mehr von Bedeutung sei, als Essen und Trinken und was man so tut, verhält christlich geprägte Betrachter zu ambivalentem Staunen. Wer seinen Paulus fest im Nacken hat, spürt Schwierigkeiten mit dem problemlosen Sex. Der Gogo-Supermarkt ist das Schaufenster einer anderen Kultur und zugleich Ausdruck kapitalistischen Hochformats: „Der Mensch ist Mittel Punkt.“ Die freie Liebe ist nicht frei. Und die sexworker sind so wenig frei wie alle auf dem Markt. Aber fast jeder hätte die Option, sich anderswo, respektabler ausgenutzt, zu reproduzieren; freibierlos, bei doppeltem Zeitaufwand und zu einem Zehntel des Einkommens. Würden in Deutschland relativ zum Normalverdienst prostitutiv solche Preise gezahlt, die These von den besonderen Verhältnissen in Thailand wäre bald dahin. „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ heißt es in Bert Brechts Text der „Dreigroschenoper“. In Thailand lebt man dem Augenblick. Was nicht da ist, ist nicht da.

Im Vergessen sind Okzidentale schwach, sie können im buddhistischen Thailand viel lernen. Menschen des Westens vergessen aus Schwäche, aus Überlastung durch die Datenflut. Buddhisten vergessen aus Begeisterung. Meditation ist als Versuch des Ausblendens aller Data zu beschreiben. Daß man „nicht so viel denken“ solle, stellt ein populäres Statement dar. Schlagertexte widmen sich bisweilen dem Thema. Kann man nicht gedankenlos genug sein, dann gibt man sich, als ob es so wäre. Alles muß sein wie es soll, und sei es gespielt; schön und freundlich. Man kann beim Weinen lächeln, sollte es immer, und beim Sex.

Nun ist Sexualität in Thailand durchaus nichts, was im Konzept buddhistischer Erlösung dieser zuträglich wäre. Im Gegenteil, steht sie doch ganz besonders fürs Gebundensein an leidbringende Lebens-Erfahrung, deren Überwindung im Nirvana qua Meditation avisiert ist. Sex ist diesem Erlösungsstreben nur nicht dienlich, weil er am Leben haften läßt. Wer seinen Weg zum Nirvana befördern möchte, halte vom Sinnlichen sich fern. Welch ein Abgrund trennt diese Überlegung von der christlichen Sündenlehre und ihrer ewigen Verdammnis der Gefallenen. Dagegen macht Buddhismus das Leben leicht und das Unkluge schwerelos. Buddhisten haben unermeßlich viele Chancen in ihren zahllosen Existenzen. Die Hoffnung auf Besseres erlischt an keinem jüngsten Gericht. Das prägt. Gelingt es nicht in dieser Erscheinung, das Karma zu verbessern, dann hoffentlich in der nächsten. Der Erfahrungsgehalt dieser gelebten Religion ist noch stets substanziell. Irre ist, wer am Überweltlichen zweifelt. Alles ist voller Geister und alter unsichtbarer Kräfte.

Die christlichen Konfessionen sind sich darin letztlich einig, daß es der Glaube ist, der selig mache, und der gilt als „donum dei“, als Geschenk Gottes. Der Theravada-Buddhist bekommt nichts geschenkt. Er ist allein. Nur er ist Herr seines Karma, seines Handelns und introspektiven Vergessens, das ja als ein „Erwachen“ gedeutet wird. Keine Gnade hilft weiter, auch wenn in den real existierenden Glaubenssynkretismen Beistand von „toten“ und lebenden Lehrern gesucht wird.

Die Leichtigkeit des Lebens und Sterbens im theravada-buddhistischen Thailand geht einher mit einer trunkenen Lebensfreude, die nicht zu beschreiben ist. Spaß (thai: „sanuk“) ist die schönste Form des Daseins. Die Radikalität des Freude wird total, wenn die Umstände es nur gestatten. Dann wird alles andere vergessen. Freilich liegt alles Körperliche nahe, wenn es lustig wird. Thailand, beneidenswert, kennt mehr Feiertage als jedes andere Land der Welt. Die Regierungen haben Glücksspiele verboten. Legale und illegale Lotterien florieren. Der große Wurf, das große Geld hier und heute, das wäre ein Zeichen der Mächte und verdammt viel Spaß. Prostitution ist wie eine Variante der Lotterie. Jedes Dorf kennt seine Gewinner mit neuem Haus und Land. Weil das Geld kommt, oder nicht, wie der Regen, verdunstet es auch oft wie dieser. Was dem Okzidentalen wohl die Chance des Lebens wäre, bleibt in Thailand eine Chance. Die Menschen des Westens könnten das „Lassen“ lernen in Thailand; verrinnen lassen, vergehen lassen, geschehen lassen. Jeder hat sein Karma, kümmere dich um dieses deine, nicht um fremdes. Das ist einer der Gründe für die liebenswerte Ignoranz in diesem Land. Das „Regel eins: jeder macht seins“, gilt auch im Straßenverkehr, aber Homosexuelle aller Effeminierungsgrade profitieren von der allgemeinen Einstellung; auch sie dürfen ihres machen. In der thailändischen Staatsreligion, die vorbildhaft auch andere Religionen anerkennt, sind Elemente des Hinduismus erhalten geblieben. Die hohe hinduistische Gottheit Indra kennt männliche wie weibliche Avater. Und in Tai-Mythen aus ganz alten Zeiten soll es ein drittes Geschlecht gegeben haben.

Derlei kann einer Offenheit gegenüber diffusen Geschlechtern nicht geschadet haben. Für Transsexuelle, Transvestiten, Ladyboys aller Schattierungen ist dieses Land eines der freiesten. Sie dürfen ohne Furcht leben. Nicht allein in der Rotlichtwelt, sondern in vielen Bereichen des Lebens; als Marktfrau, Postvorsteher und Volksschullehrer. Es ist verbürgt. Auch der „gewöhnliche Homosexuelle“ hat seinen Nutzen davon; auch der Reisende.

Studienplatz, Motorbike und Sugardaddy

Die buddhistische Deutung des Sexuellen stellt freilich nur ein Moment des thailändischen Alltagslebens. Wer genug Geld hat, vermietet seinen Körper kaum. Nach einer neueren australischen Studie ist Thailand das einzige Land Südostasiens, in dem das Gefälle zwischen Arm und Reich in den letzten vierzig Jahren stetig wuchs. Es besteht vielerorts reale Lebensnot. Während der Weltmarktpreis für Reis sinkt, steigen die Lebenskosten – und die Ansprüche auch. Die Medien tragen neue Wünsche in die letzten Winkel.

Vor zehn Jahren absolvierte nur ein Viertel der Jugendlichen die „secondary education“, heute sind es zwei Drittel. Aber auch wenn dies einen Verdienstunterschied von gut hundert Prozent markiert, für ein Leben, wie es das Fernsehen gern zeigt, reicht es nicht. Unter den Sexworkern sind viele mit „secondary education“, wenn auch die Mehrheit diejenigen sind, die nicht mithalten konnten im Schulsystem. Viele Wege führen an die gogo-stage, bisweilen auch ein Studienwunsch. Manche wollen nur einmal hinaus. Unter den Motivationen zum gogo-dancing ist der Erhalt eines Flugscheins nicht die seltenste. Aber auch ein sugardaddy, ein motorbike, wäre willkommen. Und wenn es dies alles doch nicht „regnen“ sollte, dann bleibt die Erfahrung in der Bar, oft vom Range einer Selbsterfahrungsgruppe westlicher Schwulenzentren. Daß da auch das „you take me“ und „what can i do for you“ ist, bleibt nach Auskunft Betroffener, zumindest ehemaliger Lastenträger, einerlei. Und wenn alles nichts ist, wie es die heiligen Texte lehren, und der Zahn der eh scheinhaften Zeit das Seine fordert, sind da wieder die Familie und das Reisfeld, das auch die Heimgekehrten wieder dürftig nähren wird, wenn sich das Rad des Lebens weiterdreht.

Der Tourist erfährt all dies kaum. Als es anderswo noch wirklich anders war, begnügte sich der westliche Reisende mit Neugier aufs Fremde. Das ist vorbei. Heute ist Fremdes schon zu nahe. Die Nähe bedroht die Unterschiede. Massentourismus und Cybernähe verhelfen dem globalen Anspruch westlicher Gewohnheit und Raison zum leider absehbaren Endsieg. Unter den Mächtigen im Lande des Lächelns wird über Ideen und Interessen gestritten. Eine Bewegung für „social order“ und „thai culture“ solle das Land erfassen, wünscht die Regierung. Das showcase-thai-agogo hat wahrscheinlich seine Zukunft hinter sich.