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Spekulieren auf die List des Homo sexualis


Die Sicht auf ein Werk wie Volkmar Siguschs „Geschichte der Sexualwissenschaft“ wird logischerweise determiniert vom fachlichen Interesse der Leserin oder des Lesers, kaum weniger aber vom geschlechtsspezifischen sozialen Hintergrund: Ein männlicher Medizinhistoriker findet, wie im Beitrag zuvor, andere Zugänge, Blickwinkel dazu und Kritikpunkte daran als etwa eine Professorin für Soziologie und Gender Studies. Von einer solchen wird Siguschs Monographie nachfolgend betrachtet: Kornelia Hauser

Vor einem Jahr zog eine Gruppe Studierender aus meinem Seminar „Klassiker-innen des Feminismus“ aus, um in Innsbruck nach den Niederschlägen der Sexualforschung Ausschau zu halten. Sie befragen über zwanzig GynäkologInnen nach ihrer Ansicht zu „klitoralem“ versus „vaginalem“ Orgasmus. Und erhielten darauf nur von einer die Antwort, sie habe dazu gelesen, möchte aber nichts dazu sagen. Alle anderen verweigerten jedwede Auskunft.

Um so bedrückender für die ÄrztInnen, aber auch die Frauen, die in diesem katholisch-vormodernen Tirol leben, daß die Professur für Sexualmedizin am Institut für Psychologie aus „Kostengründen“ 2003 doch nicht besetzt wurde. Dabei war der Ruf an Hertha Richter-Appelt bereits ergangen (Sigusch 2007, S. 119). Sie ist eine Mitstreiterin von Volkmar Sigusch und anderen beim Realisieren ihrer selbstgestellten Aufgaben: „Aufklären und soziale Bewegung; das sexuelle und geschlechtliche Elend beim Namen nennen; das sexuelle Unglück zum sprechen bringen; in der Theorie radikal pessimistisch sein, um kritisch zu bleiben; in der Praxis radikal optimistisch sein, um selbst das Unmögliche nicht zu versäumen; verzweifelt auf die List des Homo sexualis, auf die personale Sexualdifferenz spekulieren, weil das Sexual- und Geschlechtsleben trotz des mittlerweile erreichten Vergesellschaftungsgrades und der Einsicht, daß das Leben nicht lebt und die Sexualität nicht sexuell ist, nur individuell wirklich ist; das sexuell Besondere also nicht im System ganz aufgehen lassen. ...“ (S. 527)

Die ersten Sexualwissenschaftler zwischen 1850 und 1870 waren Vorreiter im leidenschaftlichen Sinn, Streiter, die sich ins gesellschaftliche Getümmel warfen und für die „Kunst des Liebens“ in wissenschaftlicher Weise kämpften: in Italien der katholische Paolo Mantegazza und in Deutschland der protestantische Karl Heinrich Ulrichs. Der eine liebte Frauen, der andere Männer. Sigusch entdeckt sie für uns neu und beginnt so sein voluminöses Werk über die Geschichte der Sexualwissenschaft.

Schon die Struktur ist von Interesse, indem sie Monologisches als Wissen und historische Einbettung, Denkformen, gängige Vorstellungen zur jeweiligen Zeit, als Vorschlag und Urteil in Dialogisches überführt: von allen Sexualforschern und Helene Stöcker werden Textstücke ausgelegt, damit der Leser, die Leserin sich selbst ein Urteil bilden möge. Sigusch lädt ein, mitzudenken, macht Vorschläge, sein Urteil zu prüfen oder seine Unsicherheiten klären zu helfen (siehe exemplarisch zu Eulenburg, S. 240) Mit der Geschichte der Sexualwissenschaft soll den Alten Respekt bekundet und den Jungen Mut gemacht werden (S. 254).
Und obwohl Sigusch keine „Geschichte der Sexualität“ schrieb, wird doch deutlich, wie sehr sie – in der Aneignung durch die Wissenschaften – historisch-gesellschaftlich menschengemacht ist: „Wie die Sexualform, die wir haben, ist die sexuelle Frage unterm Strich eine Frucht des Kapitalismus. Beide konnten nur heranreifen und abfallen, weil die Not der Menschen nicht mehr überwiegend Hungersnot war und gleichzeitig alle menschlichen Vermögen und Kräfte isoliert und als solche fetischisierend vergesellschaftet wurden.“ (S. 17).

Und obwohl er keine Geschichte der politischen Behandlung „der sexuellen Frage“ schrieb, wird erschreckend klar, wie vorangehend und zurückgeworfen sie ist: Hatte man die Frage, ob Homosexualität angeboren oder erworben sei, nicht schon vor dreihundert Seiten gelesen? Wieso – nachdem die medizinischen Experimente an Homosexuellen scheiterten – wird Ende des 20. Jahrhunderts das „Homo-Gen“ glücklich medial gefeiert? Oder daß die sogenannte Wende 1989 zwar eine (bei Sigusch leider unerwähnt geblliebene) Diskussion über den §218 erbrachte, aber dazu führte, das der §175 (endlich!) formaljuristisch abgeschafft wurde, da es ihn seit 1968 in der DDR nicht mehr gab und eine erneute Debatte um ihn offenbar politisch gescheut wurde. Es gibt ein Kapitel – von Günter Grau verfaßt –, das die Sexualwissenschaft in der DDR resümiert.

Wie nehme ich Freud auseinander und erkenne zwischen seinen Zeilen den Phallozentrismus, der ihn das „Weib“ nicht verstehen läßt, zugleich es aber als Nicht-Mann kenntlich macht? Das hatte Luce Irigaray schon in „Speculum“ gezeigt. Volkmar Sigusch schließt auf andere Weise dort an. Da wird der eitle, listige, mogelnde Freud in seiner Schreibpolitik vorgestellt, daß er sich als „Erster“, gar „Einziger“ in der Sexualwissenschaft herausstreicht (was oftmals zum Lachen komisch ist) und vor allem, wie er es macht: Weglassen, Übergehen, Minimieren, in Fußnoten verbannen seiner Vorläufer. Dann die Auszeichnung seiner Texte: die Metaphysik (die dunkle Begriffsbildung in rationalisierten Zeiten: Todestrieb, Traum und Unbewußtes, die sich jedem objektiven Verfahren widersetzen). Das subjektive Moment, die fehlende Reflexivität des Schreibers Freud wird ebenso deutlich wie seine Genialität – selbst beim Täuschen und Betrügen. „Die Theoreme des späteren Freud rufen einen Denkschmerz hervor“ (S. 275); das „antidiskursive Denken“ (er hat etwas „Intuitiv-Spekulatives“, das ihn anschlußfähig macht an die Kulturwissenschaften und die Philosophie, während seine Zeitgenossen von den Medizinern ernstgenommen werden wollten) und sein Zusammendenken bisher gegensätzlicher Hypothesen. Ein „eingefleischter Essentialist und zugleich ein überzeugter Konstruktivist“ (S. 277).

Auch all jene, die vertraut mit den Schriften von Krafft-Ebing, Moll, Magnus Hirschfeld, Blaschko, Helene Stöcker usw. sind, werden in der Zusammenschau und durch die Einschätzungen von Sigusch dazulernen können. Immer bindet er seine Darstellungen und Einschätzungen auch soziologisch, aber eben nicht unpersönlich verallgemeinernd zurück. Oder anders gesagt: Kapitalismuskritik zuhauf, ohne daß die persönliche Sexualität als Untersuchungsgegenstand zum „Exempel“ wird. Kritisch merkt er auch an, daß es kaum sein kann, daß es eine Wissenschaft von etwas gäbe, das durch Systematisierung, Klassifikation getötet (lies: in jedweder Bedeutung) würde und das zu fassen keine Wissenschaft vermag, weil ihr Eigensinn und ihre Lebendigkeit sich entziehen. Dieses Buch ist ein einziger Beleg für diese Aussage.

Weiterführend sind auch theoretische Verschiebungen, die Sigusch vornimmt. So nimmt er den Begriff des Dispositivs von Foucault und verschiebt ihn in den des Objektivs, der für ihn den „Faden der Kritik der Politischen Ökonomie“ nicht „abreißen läßt“ (S. 28) Sigusch will – seinem Gegenstand entsprechend – die individuell sexuellen Menschen als handelnde, verändernde Menschen mitdenken können. Das Objektiv ist eine historisch neuartige Konstruktion von Wirklichkeit (materiell-diskursive Kulturtechniken, Symbole, Lebenspraktiken, Wirtschafts- und Wissensformen in Vernetzung) (S. 28), und mit den Arbeiten der Sexualforscher zeigt er die Veränderungen dieses Objektivs: solche, die als historisch schon objektivierte existierten, aber auch solche, die erst durch Forschung hineinwebbar waren. Und Rückschläge erlitten und wieder begonnen wurden ... Man kann durchaus von einer historischen Labilität gesellschaftlicher Umwälzungen sprechen.

Siguschs Ausblick, obwohl das von ihm geleitete Frankfurter Institut für Sexualforschung 2006 geschlossen wurde (vgl. Gigi Nr. 42), und auch sonst – jenseits von Queer Thinking – mehr über Schatten als Licht zu berichten wäre: „Doch Sexualwissenschaft existiert fort, weil das sexuelle Elend nicht verschwand.“ (S. 538)
Noch anzumerken ist die Seltenheit einer eleganten Geschlechtersprache. Und daß der Anhang aus einer Chronologie der Sexualwissenschaft und einer langen Liste weiterführender Literatur nach Sachgebieten besteht.

Volkmar Sigusch: Geschichte der Sexualwissenschaft. Mit 210 Abbildungen und einem Beitrag von Günter Grau. Campus-Verlag Frankfurt am Main 2008,
720 Seiten, 39,90 Euro