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Freudsche Fehltritte

Keine Schrift Sigmund Freuds erregte bei ihrem Erscheinen die Gemüter von Fachkollegen und Laien mehr, als seine „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ im Jahre 1905 (1). Freud unternahm darin den Versuch, die Sexualität an sich faßbar zu machen (2). An zentrale Stelle rückte in der in drei Teile – Sexuelle Abirrungen, infantile Sexualität und Komplex der sexuellen Entwicklung – gegliederten Studie die Kindheit als wichtige Phase der Sexualisierung.
Aufgrund der teils erbittert geführten Debatten sah sich Freud mehrfach zu Umformulierungen und zur Auflistung neuer Forschungsergebnisse genötigt. Zu Lebzeiten kam es zu sechs Auflagen; er selbst änderte daran mehr als an allen anderen seiner Werke, ausgenommen vielleicht die „Traumdeutung“ (3).
Kritische Anmerkungen zur Freudschen Begriffsverwirrnis und genitalen Autosuggestion von Florian Mildenberger

Die zentrale Bedeutung der „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (im weiteren D.A.S.) schien von Freud und seinen Anhängern durchaus erkannt worden zu sein. Nachdem die Psychoanalytiker nach der Annexion Österreichs 1938/39 aus Wien vertrieben worden waren, erfolgte in London die Gründung der Verlagsfirma Imago Publishing, die unter Federführung Anna Freuds (1895-1982) sogleich die Neuausgabe der Gesammelten Werke Freuds unternahm, wobei eine „kritische Durcharbeitung des Textes“ integriert wurde (4). Sollte so die Einheitlichkeit der psychoanalytischen Lehre gewahrt bleiben, läßt sich jedoch gerade anhand der D.A.S. erkennen, wie wenig Freud den wissenschaftlichen Fortschritt in seine Arbeiten integrierte, welche Gründe ihn dazu veranlaßten und wie sehr diese Einheitlichkeit bereits zu Lebzeiten ihres Begründers international zur Disposition stand.

Diese Tatsache blieb lange außerhalb des Fokus’ der Forschung. So hatten Psychoanalytiker kein Interesse daran, die bereits aufgrund jahrzehntelanger feministischer Kritik beschädigte Position Freuds und seiner Thesen von sich aus zu hinterfragen (5), während sich die kritische historische Forschung vor allem auf die Rolle von Psychoanalytikern im „Dritten Reich“ (6) konzentrierte und sowohl die Psychoanalyse als auch die sich ihr widmenden Historiker außerhalb universitär gebundener Forschungsgemeinden agierten (7). Diese Fragen und Sachverhalte erfuhren erst in jüngster Zeit seitens der Vertreter der Psychoanalyse Beachtung. Hinzu kommt, daß Freuds herausragende wissenschaftliche Fehltritte in den verschiedenen Auflagen der D.A.S. sich auf den Komplex der Homosexualität beziehen – ein Thema, das lange höchst kontrovers in der breit gefächerten psychoanalytischen Gemeinde diskutiert wurde.

Das Erscheinen der D.A.S. erregte neben viel Widerstand gegen die Psychoanalyse auch das Interesse der von Magnus Hirschfeld (1868-1935) angeführten homosexuellen Emanzipationsbewegung. Denn im Gegensatz zu zahlreichen Psychiatern und Gerichtsmedizinern im deutschsprachigen Raum hatte sich Freud in seiner Beurteilung der Homosexualität – von ihm „Inversion“ genannt – zurückhaltend und vergleichsweise objektiv geäußert. Im Zusammenhang mit der Verurteilung des Wiener Professors Theodor Beer (1866-1919) wegen angeblicher homosexueller Verfehlungen hatte Freud bereits die Krankhaftigkeit der Homosexualität bestritten (8). In den D.A.S. stellte er ein eigenes Konzept der Inversion vor, wobei dieser die Rolle einer Entwicklungshemmung zukam. Zu dieser Zeit trat er mit Hirschfeld in Kontakt; der sich in den Folgejahren in der psychoanalytischen Bewegung engagierte. Gleichwohl diese Kooperation 1911 im Streit endete, gab es weiterhin lose Kontakte zwischen Psychoanalyse und Sexualemanzipationsbewegung. Vor allem handelte es sich hier um persönliche Beziehungen zwischen Hirschfeld und Personen aus Freuds Umfeld (Karl Abraham, Wilhelm Stekel, Isidor Sadger). Ein Forscher jedoch unterhielt sowohl zu Freud als auch Hirschfeld enge Bindungen, der für die weitere psychoanalytische Deutung der Homosexualität, wie sie in den D.A.S. beschrieben wurde, von entscheidender Bedeutung war: der Physiologe Eugen Steinach (1861-1944), der an Ratten und Meerschweinchen experimentelle Geschlechtsumwandlungen durchführte und durch Manipulationen am Samenleiter männlicher Versuchstiere Studien zur Regeneration des Gesamthabitus betrieb. Im Laufe des Ersten Weltkrieges verbreiterte Steinach seine Überlegungen und verkündete 1919/20, er könne mittels Hodentransplantation homosexuelle Männer „heilen“ und durch Unterbrechung des Samenleiters bei jedem älteren Mann eine sofortige „Verjüngung“ und Stärkung des Gesamtorganismus auslösen (9). Letztere Operation nannte er „Vasoligatur“ und erprobte sie an zahlreichen, auf Erlangung der ewigen Jugend spekulierenden Patienten. Hierzu zählte auch der durch seine schmerzhaften Unterkieferoperationen geschwächte Freud. Der Eingriff erfolgte am 17. November 1919 (10); bei seiner eigenen Gesundheit setzte der Begründer der Psychoanalyse offenbar auf rein somatische Heilfaktoren. Diese persönliche Hinwendung zum Biologismus hatte auch Auswirkungen auf sein Œuvre. So erklärte Freud in der vierten D.A.S.-Auflage, Steinachs tierexperimentelle Untersuchungen zur Erzielung eines künstlichen Hermaphroditismus hätten einen erfolgreichen Weg zur Beweisführung einer chemischen Sexualtheorie gewiesen (11).

Dies war das exakte Gegenteil dessen, was Freud noch 1915 in der dritten Auflage geschrieben hatte, als er die Studien zum „sexuellen Chemismus“ als Irrweg brandmarkte (12). Außerdem hätte Freud bei Steinach nachlesen können, daß die angeblichen Erfolge bei Versuchstieren keineswegs in allen Fällen aufgetreten waren (13). Doch Steinachs Verjüngungsoperation hatte Freud offenbar subjektiv urteilen lassen und er ließ seine diesbezüglichen Ausführungen fürderhin unverändert erscheinen. Dies betraf sowohl die Neuauflagen der D.A.S. (1922, 1925) als auch die 1924 vom Internationalen Psychoanalytischen Verlag unter Federführung Albert J. Storfers initiierte erste Herausgabe seiner „Gesammelten Schriften“ (14). Dabei zeigte sich in den medizinischen Debatten der 1920er Jahre, daß Steinachs Überlegungen zur Gänze auf Fehldeutungen tierischen Verhaltens beruhten. Bereits 1922/23 hatten verschiedene Operateure eingestehen müssen, daß Hodentransplantationen keine heterosexualisierende Wirkung besaßen (15); Steinach selbst sollte dies erst 1936 feststellen (16). Auch die Studien zur Verjüngung waren im Laufe der 1920er Jahre widerlegt worden. Im Tierexperiment hatten angelsächsische Forscher zunächst Steinachs endokrinologische Fehldeutungen herausgestellt (17), ehe Humanforscher anhand mißlungener Operationen oder der Beschreibung der suggestiven Wirkung vorgegaukelter Vasoligaturen ihre Wirkungsunmöglichkeit darstellten (18). Kritik kam auch aus der Psychoanalyse selbst. So lehnte Isidor Sadger (1867-1942) Steinachs ständig betonten Analogieschluß von der Ratte auf den Menschen ab (19).

Dies alles hielt Steinachs Patienten Sigmund Freud nicht davon ab, noch 1927 zu behaupten, bei ihm selbst habe die Verjüngungsoperation Erfolg gehabt (20). Einige Jahre zuvor hatte er noch kritisch an Sandor Ferenczi das Gegenteil geschrieben (21). Freuds offenbares Sichklammern an die autosuggestive Wirkung der Steinachschen Verjüngungsoperation hatte direkte Auswirkungen auf seine wissenschaftlichen Schriften. Es kam zu keiner Neuformulierung seiner Fehlurteile in der Bedeutung Steinachs in den D.A.S., auch nicht bei der angeblich so gründlichen Neuedition seiner Werke durch seine Tochter Anna. Eventuell spielte hier die Furcht vor einer Aufdeckung der Verbindungslinien des Begründers der Psychoanalyse zur biologischen Sexualforschung eine Rolle. Freuds positive Bewertung von Steinachs Untersuchungen fand sich weiterhin in den deutschen Nachdrucken seiner Arbeiten (22). So unterliegen sämtliche Autoren, die sich auf die „Gesammelten Werke“ stützen und dabei hinsichtlich der D.A.S. als Erscheinungsjahr „1905“ angeben, einem Irrtum. Vielmehr arbeiten sie mit der biologistisch angehauchten vierten Auflage von 1920.

Diese fehlerhafte Übernahme von Theorien Freuds aus einem Zeitabschnitt, als er sich mehr von subjektiven Gesundheitswünschen als objektiver wissenschaftlicher Erkenntnis leiten ließ, findet ihre verwirrende Fortsetzung in der internationalen Diskussion. Denn die D.A.S. wurden zu verschiedenen Zeiten in unterschiedliche Sprachen übersetzt, so daß die jeweiligen Fortentwicklungen der Freudschen Sexuallehre nicht immer rezipiert werden konnten. So übertrug Ferenczi die zweite, nicht aber die Folgeausgaben ins Ungarische (23). Die französische Edition von 1925 basiert ebenso wie die tschechische aus dem Jahre 1926 auf der vierten deutschen Auflage (24). Dies gilt zwar auch für die dänische Übersetzung, doch steht dieser zudem eine Einleitung Wilhelm Reichs voran, der sich als anerkannter Deuter der Werke seines Lehrmeisters positionieren durfte (25). Es ist fraglich, ob spätere Generationen von Freudianern diese Einschätzung teilten. Eine erste englische Übersetzung war (fußend auf der ersten Auflage) 1910 erschienen, 1949 erfolgte eine zweite Ausgabe unter Verwendung der Version von 1920 (26). In Rußland kursieren verschiedene Ausgaben parallel.

Angesichts dieser formalen und inhaltlichen Hindernisse fragt es sich, ob die Psychoanalyse heute als einheitliche, an ihrem Gründer orientierte Wissenschaft auftreten kann und will. Der internationale Diskurs funktioniert vorzüglich, doch scheinen jene Analytiker, die behaupten, sich stets dogmatisch an Freud zu orientieren, dessen Einlassungen weder zur Gänze gelesen noch verstanden zu haben. Die Psychoanalyse ist das letzte Relikt einer untergegangenen Epoche der Humanforschung, der Ära der Rassenhygiene, der biologistischen Sexualwissenschaft und deterministischen Geschlechtsnormierung mit dem Ziel der „Volksaufartung“. Dies könnte anhand Sigmund Freuds vorzüglich nachvollzogen werden. Doch das Verhalten der großen Mehrheit der Psychoanalytiker zu kritischen Forschungen über Freud läßt nicht darauf schließen, daß moderne Analytiker sich hinsichtlich der Geschichtsaufarbeitung anders verhalten sollten als beispielsweise die Erben der nazistischen Rassenanthropologie. Hierbei sei nur an den Disput um Freuds Zick-Zack-Kurs in der Verführungsfrage (27) oder den Zusammenhang zwischen seiner körperlichen Erkrankung und der Ausbildung der Lehrmeinung erinnert (28).

1 Ernest Jones: Sigmund Freud, Leben und Werk, Bd. 2 München: dtv 1984, 340
2 Manfred Herzer: Magnus Hirschfeld. Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen, 2. Auflage Hamburg: Männerschwarm 2001, 13
3 Ernest Jones: Sigmund Freud, Leben und Werk, Bd. 2 München: dtv 1984, 340
4 Anna Freud: Vorwort der Herausgeber. In: S. Freud: Gesammelte Werke, chronologisch geordnet Bd. I, London: Imago 1951, V-VII, V
5 Reimut Reiche: Geschlechterspannung. Eine psychoanalytische Untersuchung, Frankfurt/M.: S. Fischer 1990.
6 Geoffrey Cocks: Psychotherapy in the third Reich. The Göring Institute, 2nd edition New York: Transaction 1997;
Regine Lockot: Die Reinigung dre Psychoanalyse. Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft im Spiegel von Dokumenten und Zeitzeugen (1933-1951), Tübingen: diskord 1994
7 Michael Schröter: Zwischen den Stühlen. Betrachtungen über den sozialen Ort, die Probleme und Chancen der Psychoanalysegeschichte. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 14 (2003), 135-146, 136
8 Manfred Herzer: Magnus Hirschfeld, 154-161
9 Florian Mildenberger: Verjüngung und „Heilung“ der Homosexualität. Eugen Steinach in seiner Zeit. In: Zeitschrift für Sexualforschung 15 (2002), 302-322
10 Ernest Jones: Sigmund Freud, Leben und Werk, Bd. 3 München: dtv 1984, 123
11 Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 4. Auflage Leipzig/Wien: Deuticke 1920, 79
12 Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 3. Auflage Leipzig/Wien: Deuticke 1915, 76
13 Eugen Steinach: Geschlechtstrieb und echt sekundäre Geschlechtsmerkmale als Folge der innersekretorischen Funktion der Keimdrüse. In: Zentralblatt für Physiologie 24 (1910), 551-566
14 Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke, Bd. 5, Leipzig/Wien: Deuticke 1924, 3-119
15 K. Blum: Homosexualität und Pubertätsdrüse. In: Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 31 (1923), 161-168; Brandt/Liescheid: Klinisches und experimentelles zur Frage der Hodentransplantation. In: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 12 (1923), 460-466
16 Eugen Steinach: Zur Geschichte des männlichen Sexualhormons und seiner Wirkungen am Säugetier und beim Menschen. Im Anschluß an neue eigene Forschungen. In: Wiener klinische Wochenschrift 49 (1936), 161-172
17 K. F. Bascom: Quantitative studies on the testis. In: Anatomical Record 31 (1925), 225-241; R. Oslund: A study of vasectomy on rats and guinea pigs. In: American journal of physiology 67 (1923), 422-444
18 Siehe z.B. R. Kafeman: Ist Verjüngung beim Manne und der Frau möglich? Oder Wahrheit, Irrtum und Betrug in der Verjüngungsfrage (Steinach, Voronoff usw.), Königsberg: Schmidt 1928
19 Isidor Sadger: Psychopathia sexualis und innere Sekretion. In: Fortschritte der Medizin 37 (1920), 20-22
20 Sigmund Freud: Tagebuch 1929-1939. Kürzeste Chronik, herausgegeben und eingeleitet von Michael Molnar, Basel: Stroemfeld 1996, 311
21 Ernest Jones: Sigmund Freud, Leben und Werk, Bd. 3 München: dtv 1984, 123
22 Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 7. Auflage Leipzig/Wien: Deuticke 1946; Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Frankfurt/M.: S. Fischer 1991
23 Sigmund Freud: Három értekezés a szexualitásról. Ford. És az elöszót irta Ferenczi Sándor, Nyyiregyháza: Kötet Kiad´p 1914/1995
24 Sigmund Freud: Trois essais sur la théorie de la sexualité. Traduit de l’allemand par la Dr. Revercnon, Paris: Gallimard 1925; Sigmund Freud: Tri úvahy o sexuální teorii, Praha: A. Srdce 1926. Das gleiche Problem liegt vor bei: Sigmund Freud: Sexualidade. Trad de Osório de Oliveira, Lisboa: Edition Ática 1932 sowie Sigmund Freud: Tri razprave o teoriji seksulnosti, Ljubljana: Skuc 1995
25 Sigmund Freud: Tre afhandlinger om sexualteorie, Kobenhavn: Store Nordiske Videnskoabsbogh 1934
26 Sigmund Freud: Three essays on the theory of sexuality. Authorized translation by James Strachey, London: Imago 1949
27 Jeffrey Moussaieff Masson: Was hat man dir, du armes Kind, getan? Sigmund Freuds Unterdrückung der Verführungstheorie, Reinbek: Rowohlt 1984
28 Jürg Kollbrunner: Der kranke Freud, Stuttgart: Klett-Cotta 2001