Einfach
mal die Fresse halten!
Ein Kommentar von Rolf Rahe
Genauso lange, wie es
den Kongreß HIV im Dialog gibt, wird auch das Phänomen
Barebacking nicht zu verwechseln oder gar gleichzusetzen mit unsafe
Sex in Deutschland kontrovers diskutiert. Auffallend dabei ist, daß
in dieser Debatte fast ausnahmslos von selbsternannten Experten
über Barebacker gesprochen und deren Sexualität zu einem gesamtgesellschaftlichen
Problem konstruiert wird, nicht jedoch Barebacker selbst zu Wort kommen. Eine
einzige allgemein bekannt gewordene Ausnahme blieb die Instrumentalisierung
von Heiko Mentzel als dem Betreiber von barebackCITY, des lange Zeit
einzigen und unverändert größten Internetportals ausschließlich
für Barebacker im gesamten deutschen Sprachraum, auf dem Kongreß
HIV im Dialog im Jahre 2004 in Berlin.
Wenn man keine Ahnung
hat: einfach mal Fresse halten (1), gebietet Dieter Nuhr, eine der ganz
wenigen Lichtgestalten des politischen Kabaretts in der Bundesrepublik. Womöglich
haben sich das die Veranstalter von HIV im Dialog im Vorfeld ihres
Jubiläums zu eigen gemacht und deshalb 2008 taktvollerweise auf eine
peinliche Expertenrunde wie zuletzt jene mit Johannes Kahrs (SPD)
und Jens Spahn (CDU) im vergangenen Jahr verzichtet. In Deutschland
wird es höchste Zeit, daß wir HIV auf den sprichwörtlichen
Boden der Tatsachen herunterholen, hierdurch Menschen mit HIV und AIDS von
den konsequenterweise oft bodenlosen Zuschreibungen entlasten und auf diese
Weise schließlich den Weg bereiten für ein offenes und nicht ausgrenzendes
Kommunizieren, mahnte der Leiter der Beratungsstelle der AIDS-Hilfe
Frankfurt, Michael Bohl, anläßlich des Welt-AIDS-Tages am 1. Dezember
2007 in der Paulskirche. Wenn man nämlich mit Barebackern über Barebacking
spricht, wie ich das in mehreren hundert Begegnungen seit 2003 getan habe,
dann erfährt man nicht nur, daß diese
grundsätzlich
besser über die Risiken sexuell übertragbarer Krankheiten,
über den nicht hundertprozentigen Schutz sexueller Schutzmittel
(Kondome) und
über die Nichtinfektiosität von HIV-Infizierten (offizielle
Verlautbarung der EKAF) unter bestimmten Bedingungen informiert sind als andere
sexuell aktive Menschen, sondern
Barebacking ausschließlich einvernehmlich praktizieren,
der Verzicht auf Serosorting hierbei Teil konkludenten Handelns ist
und
sie mithin nicht verantwortungslos ihren Sexualpartnern gegenüber
handeln. Hierbei kann ich zusammenfassend im wesentlichen die nachfolgenden
Tendenzen bei Tatsachen und Einstellungen feststellen:
Infolge verbesserter Therapiemöglichkeiten
von HIV und AIDS haben HIV-Infektionen jenen Schrecken verloren, den sie noch
bis Mitte der 1990er Jahre hatten. Die daraufhin wiedergekehrte Lebensfreude
und damit wiedergewonnene Freude vieler Angehöriger der größten
HIV-Betroffenengruppe am Ausleben ihrer sexuellen Triebe und Begierden
ein Tabubruch führte gleichzeitig zum Anstieg von Sexualneid innerhalb
und außerhalb der Homosexuellenszene. Barebacker verweigern sich dadurch
dem absatzfördernden Wunsch vieler Medien, das Bild leidender, am AIDS-Vollbild
erkrankter, dahinvegetierender Männer zu bedienen, die Sex mit Männern
haben. Ihre inzwischen wieder deutlich selbstbewußter ausgelebte Sexualität
läßt sich in einer traditionell homosexuellenfeindlichen Gesellschaft
schlecht positiv vermarkten. Andere Verlierer des Neoliberalismus, welche
die ihnen aufgezwungene oder noch drohende Zukunfts- und Perspektivlosigkeit
nicht erkennen oder wahrhaben wollen, neiden Barebackern oft diese wiedergewonnene
sexuelle Freiheit. HIV-Präventionisten und Safer-Sex-Propagandisten am
öffentlichen Fördertropf beispielsweise die Deutsche AIDS-Hilfe
(DAH) vermitteln in der Barebackszene vielen das klägliche Bild,
sich im härter gewordenen Verteilungskampf eher um Förder- und Zuwendungsmittel
etwa des Bundesministeriums für Gesundheit oder der Bundeszentrale
für gesundheitliche Aufklärung , um ihre Daseinsberechtigung
und Zuständigkeitsansprüche zu sorgen als um die Wiederherstellung
der sozialen Absicherung, sexuellen Befriedigung und Lebensqualität ihrer
Kundschaft. In Spitzenverbänden der homosexuellen Subkultur
allen voran der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD)
haben Barebacker ebensowenig eine Lobby wie in den Homogruppen sämtlicher
der in Bundes- und Landtagen sitzenden politischen Parteien: Sie werden als
vogelfrei behandelt und empfinden sich demzufolge auch als sexualpolitisches
Freiwild.
Weder das Robert-Koch-Institut
noch die DAH noch der LSVD noch die sozialdemokratischen Schwusos, die Lesben
und Schwulen in der Union (LSU) oder ähnliche regierungs- und parteinahe
Institutionen und Organisationen setzen sich deutlich wahrnehmbar und überzeugend
für die Verteidigung des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
von Barebackern ein. Barebacker haben immer deutlicher die Wahrnehmung, von
all diesen Einrichtungen eher als geschäftsschädigend
denn als gleichberechtigt förderungswürdig behandelt zu werden.
Vorstehende Tendenzen befinden sich nach meinen Feststellungen nicht nur im Einklang mit Statements Tausender Barebacker in deren wichtigstem Diskussionsforum: der Pinnwand bei barebackCITY, dem eingangs erwähnten, maßgeblichen Medium für Kommunikation und Praxis von Barebackern in Deutschland. Das einzige regierungs- und parteiferne Printmedium im deutschen Sprachraum, das sich seit dem Bedeutungswandel des Begriffs Barebacking im Jahre 2003 ähnlich differenziert mit risikobewußtem, einvernehmlichem, ungeschütztem Sex unter Männern, die Sex mit Männern haben, unabhängig von ihrem Serostatus (Passon-Definition) befaßt hat, ist die vom wissenschaftlich-humanitären komitee (whk) herausgegebene sexualpolitische Zeitschrift Gigi. Wer ihre Veröffentlichungen zu diesem Thema zur Kenntnis genommen hat, weiß, daß unsafe Sex zwar eine Voraussetzung von Barebacking, Barebacking aber nicht dasselbe wie unsafe Sex ist. Wer diesen entscheidenden Unterschied erst einmal verstanden hat, versteht auch, daß Serosorting beim unsafe Sex, anders als noch bis Ende 1998 zwischen HIV-infizierten Schwulen, heute ebenso wenig mit dem bedeutungsgewandelten Begriff gleichgesetzt werden kann.
Doch Lesen beeinträchtigt
bekanntermaßen die Dummheit. Im Hinblick auf den bisherigen Verlauf
der übrigens nicht von Barebackern betriebenen Diskussion
um die Einführung einer Strafbarkeit von Barebacking steht zu befürchten,
daß die einer Kriminalisierung dieser Form von eigenverantwortlicher
Selbstgefährdung und Einwilligung in Körperverletzung (nichts anderes
ist Barebacking heute rechtswissenschaftlich betrachtet im Unterschied zu
lediglich ungeschütztem Geschlechtsverkehr) das Wort redenden Nicht-Barebacker
nicht all zu viel zum Thema gelesen und kognitiv erfaßt haben können.
Andernfalls würden sie nämlich die höchstrichterliche Rechtsprechung
hierzu kennen und respektieren sowie von ihren rechtspolitischen Schnapsideen
Abstand nehmen. Demnach befindet sich Barebacking anders als ungeschützter
Geschlechtsverkehr eines HIV-Positiven mit einem anderen Menschen, der von
dessen HIV-Infektion nichts wußte oder aber davon wußte und eine
eventuelle Übertragung nicht billigend in Kauf nahm keinesfalls
im Widerspruch zur gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu eigenverantwortlicher
Selbstgefährdung und zu Einwilligung in Körperverletzung. Mit anderen
Worten: Spätestens bei einer dereinstigen Überprüfung eines
möglicherweise ab März 2009 daherkommenden Sondergesetzes gegen
Internetportalbetreiber für Barebacking oder Sexpartyveranstalter für
Barebacker durch den Bundesgerichtshof oder durch das Bundesverfassungsgericht
dürften Details der Inkompetenz der Befürworter einer Strafbarkeit
von Barebacking niemanden mehr interessieren. Wohl aber die Namen derjenigen,
die dafür ihr Wort und ihr Händchen erhoben haben.
(1) Dies ist nur eine verkürzte Version seines Zitats, die vollständige lautet: Ich glaube, das ist damals [nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland] falsch verstanden worden mit der Demokratie: Man darf in der Demokratie eine Meinung haben, man muß nicht. s wär ganz wichtig, daß sich das mal rumspricht. Wenn man keine Ahnung hat: Einfach mal Fresse halten. Vgl. http://www.vitalx.de/nuhr.htm; s.a.: http://de.wikipedia.org/wiki/Dieter_Nuhr