In der
Bibliothek von Sodom, Axel Schocks verläßlichem Nachschlagewerk
über schwule Literatur, beginnt der Aufsatz über den Hamburger Schriftsteller
Hubert Fichte mit einer Warnung, die Fichte einmal vor sich selbst abgab:
Ich bin ein Schriftsteller, der sich in seinem Leben mehr mit Strichjungen,
Straßenmädchen und Voodoopriestern herumgetrieben hat als mit den
wichtigsten Persönlichkeiten, mit denen man als Schriftsteller umgehen
sollte.
Tatsächlich
schien sich der 1986 im Alter von fünfzig Jahren verstorbene Autor zeitlebens
im etablierten Literaturbetrieb nie sonderlich heimisch gefühlt zu haben
und im Deutschland der 50er und 60 er Jahre schon gar nicht. Als Halbjude
und Halbweise kommt er am 21. März 1935 zur Welt, die Kindheit
verbringt er bei der Großmutter in Hamburg und im Waisenhaus. Er spielt
kleinere Rollen am Deutschen und am Thalia-Theater, doch aus der Schauspiel-Karriere
wird nichts. Als Knecht und Schafhirte vagabundiert er zwei Jahre lang durch
Frankreich, beginnt anschließend in Deutschland eine Ausbildung zum
Landwirt, später, in den 70ern, reist er zusammen mit seiner platonischen
Lebensgefährtin, der Fotografin Leonore Mau, in die Karibik, zum Persischen
Golf, nach Chile, Westafrika, Brasilien und in den Senegal. Alles, bloß
nicht Deutschland.
Das als
Pendant zu Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
und Hans Henny Jahnns Fluß ohne Ufer konzipierte Lebenswerk
Die Geschichte der Empfindlichkeit konnte Fichte nicht mehr beenden,
neben diesem hinterließ er zahlreiche Reiseberichte und Erzählungen,
auch Glossen sowie etliche vom NDR produzierte Hörspiele. Eine akustische
Wiederbegegnung mit Fichtes 1970 als Beginn der deutschen Pop-Literatur
(Axel Schock) gefeiertem Erzählband Die Palette erlaubt nun
ein Mitschnitt aus dem Jahr 1966, der anläßlich von Fichtes 70.
Geburtstag beim Kölner Audio-Verlag Supposé als Hörbuch erschienen
ist. Welch eine Entdeckung! Weiß der Himmel, wo Supposé das alte
Tonband ausgegraben hat. Fichte liest, Ian & the Zodiacs und Ferre Grignard
machen Musik man meint, es wäre erst gestern Abend in der Kneipe
um die Ecke gewesen.
Fichtes
Palette ist eine Beatkneipe, in der sich Nutten, Penner, Künstler,
Fixer und Schwule tummeln. Wie passend, ging doch die aufgezeichnete Lesung
am 2. Oktober 1966 ausgerechnet im legendären Hamburger Star-Club über
die Bühne, vor einem Publikum, das laut Fichte sonst nie in Buch
in die Hand nimmt. Fichte respektiert seine Figuren auch als
politische Wesen. Von Leuten, die so sind wie die Zuhörer, trägt
er vor. Von Hamburger Senats-Cowboys in Polizeiuniform, vom Ostermarsch
und auch von der Homophobie in der Linken: Wenn sie Erfolg hätten
mit der traditionellen Klampfenwanderung, ihrer Gewaltlosigkeit, ihrer haschischverstärkten
Atomgegnermarschiererei und wenn die Erde frei wäre von taktischen oder
sonstigen Atomwaffen, dann würden die Tunten immer noch ausgelacht, wenn
sie beim Regen im Gebüsch stehen am Dammtorbahnhof und sich gegenseitig
die Uhren aufziehen. Na, das hat gesessen.
In die
Nischen sexueller Verhältnisse im Kapitalismus guckte Fichte gern genauer.
Entdeckt hat er dort das wahre Leben. Von nicht geringem Wert sind daher auch
die in der tontechnischen Qualität verständlicherweise etwas abfallenden,
eigentlich nicht zur Veröffentlichung gedachten Mitschnitte von Fichtes
Rechercheinterviews in Hamburger Rotlichtviertel von 1969, die Supposé
auszugsweise unterm Titel Palais dAmour herausbrachte. Fichtes
ausgesprochen komplexe Fragetechnik scheint nur vordergründig journalistische
Gepflogenheiten zu bedienen. Eher schon verweist sie auf eine Literaturgattung,
die es in der BRD nie so recht gab und die in der DDR erblühte: die Protokoll-Literatur.
So wie diese fragt Fichte abseits von Mainstream und Medien nach Leben und
Arbeit nach Leben. Etwa die junge Hure Sandra oder den Bordellbesitzer Wolfgang
Köhler, den er in seinen Werken als Wolli Indienfahrer verewigte.
Mit Wolli Köhler parliert Fichte nicht nur über die aberwitzigen Tücken des damals kaum legalen Sexgeschäfts, sondern auch über Literatur, beispielsweise Proust berühmten Fragebogen. Fichte: Was tust du am liebsten? Köhler: Am liebsten mache ich Liebe, Haschisch rauchen und Musik hören. Fichte: Mehr nicht? Köhler: Ich lese auch gerne, aber am liebsten mache ich Liebe. Fichte: Proust antwortet: Lektüre, Träumerei, Verse, Geschichte, Theater. Köhler: Ja, das ist auch schön. Aber Proust war damals 14 Jahre. Stell Dir mal vor, der hätte damals gesagt: Am liebsten mache ich Liebe. Dann hätte man gesagt: Was ist denn das für ein verkommenes Bürschchen! Das konnte er ja nun schlecht sagen. Nach Fichtes Sexualität befragt, sagte Köhler später einmal in einem Interview: Hubert hatte einen Gang, du sahst aus 15 Metern Entfernung, da kommt ein bekennender Schwuler. Und ohne jede Ironie fügte er hinzu: Ja, Hubert war ein schöner Mann. Sieg nach Punkten für St. Pauli.
Hubert Fichte: Beat und Prosa. Live im Star-Club Hamburg 1966, Musik: Ian & the Zodiacs, Ferre Grignard, Audio-CD, 18 Euro