Start

Feministinnen auf dem Strich


Nicht immer ist und war sich der Feminismus einig, ob Prostitution gut, schlecht oder neutral ist. Das war auch schon vor einigen Jahrzehnten nicht anders, als in den 70er und 80er Jahren erstmals Sozialwissenschaftler/innen begannen, sich der Prostitution als Forschungsgegenstand zuzuwenden, ohne den moralischen Zeigefinger zu erheben, sondern mit dem Anspruch die Lebenssituation von Prostituierten zu verstehen. Eine wissenschaftsgeschichtliche Rückschau von Olaf Apel

Als in den 80er Jahren die feministischen Forscherinnen Cecilie Høigård und Liv Finstad ihre in Norwegen durchgeführte Studie „Bakgater“ (deutsch: „Seitenstraßen“) veröffentlichten, war ihr Urteil vernichtend: „Prostitution brennt den Mädchen und Frauen die Gefühle aus dem Körper“ (S. 158). Die Studie bildete eine wichtige Grundlage für folgenden Debatten in Skandinavien, deren Resultat unter anderem das 1999 eingeführte gesetzliche Verbot der Prostitution in Schweden war, bei der nicht die Prostituierte, sondern ihre Klienten kriminalisiert werden. Demgegenüber ist es in Norwegen selbst – allerdings bereits seit 1995 – lediglich strafbar, Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen, die der Prostitution dienen. Der Impetus dieser Herangehensweise ist unmißverständlich: Frauen, die Prostituierte sind, sind immer schon Opfer. Sie werden ausgebeutet durch die Schattenwirtschaft einer ausgefeilten Prostitutionsindustrie, über die der Staat Kontrolle ausüben muß, um die Würde der Frau zu schützen – so auch die ganz offizielle Begründung in der schwedischen Rechtsprechung.

Zu einem ganz anderen Ergebnis kamen indessen die Rose-Marie Giesen und Gunda Schumann in ihrer Feldstudie „An der Front des Patriarchats“: Prostituierte weichen „von den herrschenden sexuellen Normen ab und schaffen sich somit einerseits Freiräume, werden aber andererseits besonders von der Gesellschaft unterdrückt“ (S. 11). Die Unterdrückung gehe dabei allerdings weniger von korrupten Zuhältern und sexistischen Freiern aus als vielmehr von der gesamtgesellschaftlichen Diskriminierung abweichender Formen der Sexualität. Die Prostituierten selbst sind so keine Opfer, sondern Expertinnen, die sich souverän in ihrem Territorium bewegen. In engem Zusammenhang mit der Position von Giesen und Schumann ist die Hurenbewegung zu sehen, die sich seit ihrer Entstehung für generelle Akzeptanz der Prostitution als „Arbeit wie jede andere auch“ einsetzte.

Summa summarum kommen beide Studien, trotz ihrer empirischen Fundierung, zu völlig anderen Schlüssen. Die Preisfrage lautet demzufolge: Wie kann es sein, daß zwei von der Methodik her vergleichbare Untersuchungen, deren Autorinnen sich zudem gleichermaßen dem Feminismus verpflichtet sehen, zu derart verschiedenen Ergebnissen kamen?

Betrachtet man die Studien genauer, kommt man des Rätsels Lösung näher: Trotz ihrer generalisierenden Schlüsse gibt es in den beiden Feldforschungen nämlich einen bedeutenden Unterschied bezogen auf den sozialen Hintergrund der beforschten Frauen. Die 26 Frauen in der norwegischen Studie kamen aus Arbeiterklassefamilien, lebten überwiegend in hochgradig instabilen sozialen Verhältnissen, mit Ausnahme von lediglich dreien hatten alle Heimerfahrungen. Ihre Situation war gekennzeichnet von Perspektivlosigkeit, Gewalterfahrungen und Drogenabhängigkeit. In schroffem Kontrast dazu hatten die Frauen der deutschen Untersuchung im allgemeinen ein hohes Bildungsniveau und waren Kinder der Mittel- und Oberschicht. Zudem arbeiteten die meisten nicht auf dem Strich, sondern in Bordellen oder als Callgirls, hatten also einen eher hohen Status innerhalb der Sexarbeitshierarchie inne.

Waren also die Arbeitsverhältnisse der Frauen bei Høigård und Finstad in hohem Maße geprägt von Restriktivität und Prekarität, hatten jene bei Giesen und Schumann weitaus günstigere Ausgangslagen, um ihre Arbeit selbstbestimmt und unabhängig zu gestalten. Auch Giesen und Schuman gestehen ein, daß „Callgirls als Vertreterinnen der liberalsten Form von Prostitution mit ihrer partiellen gesellschaftlichen Integration einerseits und ihrer weitgehenden Unabhängigkeit andererseits heute am ehesten die Voraussetzungen einer Emanzipierung von Prostituierten“ (S. 184) in ihrem Leben realisieren. Dennoch legen sie in ihrer Untersuchung – allerdings weniger stark als Høigård und Finstad – nahe, daß sie die Prostitution untersuchen. Freilich eine gewisse abstrakte Generalisierung, die etwas recht Relevantes ausblendet: die verschiedenen Arbeitsverhältnisse unter unterschiedlichen Ausbeutungsbedingungen innerhalb der kapitalistischen Ökonomie. Sowenig wie man die Tätigkeit einer Fließbandarbeiterin mit der einer Abteilungsleiterin über einen Kamm scheren kann, sowenig kann man die Arbeit als Callgirl und die als Sexarbeiterin auf dem Strich von vornherein gleichsetzen.

Man muß nicht Judith Butler gelesen haben, um zu wissen, daß der Feminismus unter Favorisierung des Sexismus als Hauptunterdrückungsfaktor mitunter einen blinden Fleck hat an den Stellen, wo sich aufs Bösartigste Rassismus, Antisemitismus und eben, wie hier, Klassismus und klassenspezifische kapitalistische Ausbeutung ein Stelldichein genehmigen. Wer hätte das gedacht? Die Marktwirtschaft macht auch vor dem Körper nicht halt. Daß man im Falle der Prostitution allerdings weniger an Wirtschaft und ihre Allgegenwart denkt, sondern eher ans Poppen, mag an der heiklen Position liegen, welche die Sexualität in unserem Kulturkreis innehat. Oder wie es die US-Feministin Gayle Rubin formuliert: „Ein Überschuß an Bedeutung belastet alle sexuellen Akte“ (S. 39). Jegliche Form der Repression, der physischen wie emotionalen Gewalt, der Ausnutzung und Ausbeutung erhält im Bereich des Sexuellen – oder wenn diese Momente mit Sexualität verwoben sind – ein besonderes Schwergewicht.

Quellen
Giesen, R.-M. & Schumann, G. (1980): An der Front des Patriarchats. Bericht vom langen Marsch durch das Prostitutionsmilieu. Bensheim: Päd.-Extra
Høigård, C. & Finstad, L. (1987): Seitenstraßen. Geld, Macht und Liebe oder Der Mythos von der Prostitution. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt. (Originalarbeit unter dem Titel Bakgater erschienen 1986)
Rubin, G. (2003): Sex denken: Anmerkungen zu einer radikalen Theorie der sexuellen Politik. In A. Kraß (Hrsg.), Queer Denken, S. 31-79. Suhrkamp, Frankfurt am Main