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Eine Dame verschwindet


Posteingang Ende Mai: Die Hauptschwerbehindertenvertretung für die Behörden, Gerichte und nichtrechtsfähigen Anstalten des Landes Berlin lädt zum Empfang; der Herr Bundespräsident habe einem Redaktionsmitglied „am 9. Februar dieses Jahres das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen“. Aschermittwoch also, und doch kein Karnevalsscherz. Die Ehrung erfolge „vor allem für seine kritischen Arbeiten auf sexualpolitischem Gebiet im Rahmen des wissenschaftlich-humanitären komitees (whk) und in der Redaktion der vom whk herausgegebenen Fachzeitschrift Gigi“. „Affront“ lautet ein Kommentar in der Redaktion. Urkunde und Kreuz würden durch die Berliner Senatorin für Gesundheit und Soziales, Dr. Heidi Knake-Werner (PDS), ausgehändigt. Bevor genau dies am 1. Juni im Sozialprojekt Café Palladin geschehen konnte*, hörten die rund fünfzig Gäste nach der Laudatio der Senatorin folgende Dankesrede von Ortwin Passon

Langsam! Langsam! Langsam!“, gebot mein langjähriger Kammervorsitzender beim Arbeitsgericht Berlin, Klaus von Feldmann, immer dann, wenn eine der Parteien zu forsch vorpreschte und so dem Gericht und der Öffentlichkeit den Eindruck vermittelte, die ganze mündliche Verhandlung sei nur eine Formsache, eigentlich stehe der Ausgang der Streitigkeit ja ohnehin schon fest.

Eine Ordensverleihung aber, Frau Dr. Knake-Werner, ist ein herausragender hoheitlicher Akt, der erst mit der Aushändigung erfolgreich abgeschlossen werden kann. So zumindest belehrte mich Ihr persönlicher Referent, Matthias Birkwald, weshalb wir heute hier sind. Zu den damit verbundenen Problematiken habe ich mich zuletzt am 25. Juli 2000 in ähnlicher Runde im großen Sitzungssaal der Schwulenberatung Berlin äußern und verantworten müssen. Damals erhielt ich mit der Bundesverdienstmedaille noch eine Bewährungsstrafe.

Sehr geehrte Frau Senatorin, verehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,
die mit der Einladung zum heutigen Termin mir zur Last gelegten Taten lesen sich wie die Anklageschrift für einen notorischen Wiederholungstäter. – Kein Zweifel, die meisten sprechen gegen mich. Obwohl sie von mir uneingeschränkt gestanden werden, sind sie teilweise so schwerwiegend, daß ich in diesem Verfahren schon aus generalpräventiven Gründen nicht mit einem blauen Auge davon kommen darf.

Der Kabarettist Dietrich Kittner meinte einmal im Zusammenhang mit der vom Historiker Helmut Kohl eingeforderten „Gnade der späten Geburt“, Gnade sei „unverdiente Milde“. Ich bin kein Historiker. Da mir aber wie vor fünf Jahren auch in diesem Prozeß das letzte Wort zusteht, will ich mein ungeheuerliches Fehlverhalten exemplarisch knapp erläutern dürfen, ohne erneut in die Beweisaufnahme einzutreten.

Bei den meisten meiner Verfehlungen hatte ich Mittäterinnen oder Mittäter, die sich heute hier im Publikum verstecken. Aber keine Angst (blinzelt) – ich werde niemanden verraten, sondern übernehme die alleinige politische Verantwortung! Ohnehin handelt es sich bei nicht wenigen meiner Einzeltaten um untaugliche Versuche:

So sollte ich den seinerzeit für die Außendarstellung des THW-Ortsverbandes Tempelhof-Schöneberg Zuständigen eigentlich nur mit sach- und fachkundigen Hinweisen beraten. Doch dann fing es furchtbar an zu regnen und ich befand mich plötzlich im Rampenlicht der Öffentlichkeit. Da ich meine Sache gut machte, wurde mir ein Disziplinarverfahren wegen angeblicher „Beleidigung des Dienstherrn“ in Aussicht gestellt. Ich vermute mal, weil ich in dem Interview, das ich der Tageszeitung junge Welt am 30. August 2002 zur Hochwasserkatastrophe an der Elbe gab, sowohl Bundesinnenminister Otto Schily als auch THW-Präsident Georg Thiel namentlich zu erwähnen vergaß. Doch dann kam alles anders. Am Folgetag wurde die Pressestelle in der THW-Einsatzleitung Berlin aufgelöst und statt eines Disziplinarverfahrens erhielt ich fünf Orden und Ehrenzeichen von Bund und Ländern. Es hat also alles nichts genützt.

Nicht viel besser erging es mir bei der DLRG. Hatte man mir Ende der Neunziger Jahre in Berlin wenigstens noch ein verbandsinternes Ehrengerichtsverfahren versprochen, falls ich weiterhin als Rettungsschwimmer und praktizierender Homosexueller öffentlich und also „verbandsschädigend“ in Erscheinung treten sollte, berief man mich bald darauf in eine Arbeitsgruppe der DLRG-Jugend nach Bad Nenndorf. Mit deren Ergebnissen wollte das Bundespräsidium um Vize Detlev Mohr herum pädophilen Mitgliedern innerhalb dieses persönlichkeitsprägenden Schwimmclubs den Garaus machen. Leider arbeiteten Natalie Ederer und ich sexualpolitisch sehr professionell, so daß unsere Ergebnisse sich nicht mit den Zielvorgaben deckten. Die im 13. Protokoll unserer AG vorgenommene Auswertung vom April 2004 dokumentiert zwar sehr differenziert, warum das aus fachwissenschaftlicher Sicht gar nicht anders kommen durfte. Da sie aber mit mehr als zehn Seiten vermutlich zu textlastig ausgefallen ist, wurde sie vom Bundesjugendsekretariat bislang nicht verteilt, sondern verschwand in dessen „Giftschrank“. Statt konkreter Maßnahmen zur Förderung selbstbestimmter Kinder- und Jugendsexualität macht man dort nun in „Gender Mainstreaming“, um zur Belohnung Gelder aus dem Jugendplan von Bundesfamilienministerin Renate Schmidt zu kassieren. Es hat also alles nichts genützt.

Ein ähnliches Schicksal erlitt meine an der Führungsakademie des Deutschen Sportbundes erstellte und dort hoch gelobte Ausarbeitung über Möglichkeiten der „Qualitätsverbesserung und Qualitätssicherung der Jugendarbeit für Schwule und Lesben im DLRG-Landesverband Berlin auf der Grundlage der Brettschneider-Studie und unter Berücksichtigung sexualwissenschaftlicher Erkenntnisse“. Sie basiert auf der Theorie der menschlichen Dummheit meines Lieblingsphilosophen Carlo M. Cipolla und den fünf Prinzipien seiner Theorie. Diese Handreiche geriet ziemlich instruktiv und wartet vielleicht deshalb schon seit einigen Jahren auf Umsetzung durch den Landesverbandspräsidenten, Ex-General Hans Speidel, und seine Gremien. Es hat also alles nichts genützt.

Ebenso wenig Zuspruch erntete mein Beitrag „Braune Spuren in der Badehose“ zum 90. Geburtstag dieser Hilfsorganisation. Richtungsweisende Fakten verschwieg ich darin keineswegs. Beispielsweise, daß sich diese Institution schon 1933 als eine der ersten nach der Machterteilung für „judenfrei“ erklärte und die DLRG unter SS-Brigadegeneral Franz Breithaupt als Präsident sogar in den von Deutschland überfallenen Nachbarländern wirkte – wenn dieser nicht gerade mit der Leitung seiner „Lebensrettungsgemeinschaft“ beschäftigt war, betätigte er sich als SS-Standortältester im KZ Oranienburg oder als Chef des Hauptamtes SS-Gericht. Zwar bin ich aus dem sogenannten Bonzenverzeichnis klammheimlich entfernt worden, als Vorstandsassistent meiner Gliederung bislang jedoch nicht wieder entbunden. Es hat also alles nichts genützt.

Als bestenfalls groben Unfug betrachte ich mein Unwesen in der ehrenamtlichen Seniorenbetreuung der öffentlichen Verwaltung meines Wohnbezirks, mein Nichtstun beim hiesigen Stricherprojekt und meine verdrängten Freizeitaktivitäten in einem inzwischen aufgelösten Lokalparlament. Hier gilt ebenfalls: Es hat alles nichts genützt. Ich verspreche also: All diesen Unsinn werde ich einstellen und nicht wiederholen!

Doch auch untaugliche Versuche sind strafbar, wie ich als Hauptschöffe am Landgericht Berlin lernte. Insofern erscheint die Entscheidung des Herrn Bundespräsidenten vom Aschermittwoch durchaus gerechtfertigt.

Keinesfalls Bagatelldelikte, sondern unverzeihliche Überzeugungstaten begehe ich allerdings fortgesetzt seit Juli 2000 im wissenschaftlich-humanitären komitee (whk) und in der vom whk edierten Gigi. Dabei handelt es sich um die einzige Zeitschrift für sexuelle Emanzipation im deutschen Sprachraum. Einzelheiten ergeben sich weniger aus meinem „polizeilichen Führungszeugnis“ als aus der Übersicht meiner Arbeiten in der Dataspace-Infoladen-Datenbank Nadir oder den whk- und Gigi-Homepages.

Nicht zuletzt im Zuge Ihrer eigenwilligen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zum heutigen Termin (1) drängt sich daher für mich zunehmend die Überlegung auf, wie diese beiden vorbildlichen, von mir vertretenen Einrichtungen und meine Person vor weiterer Beschädigung bewahrt werden können.

Da ich bislang nicht straffällig geworden bin, taucht bezüglich des Strafmaßes also die Frage auf: Kann ich diese Auszeichnung überhaupt annehmen, ohne politisch unglaubwürdig zu werden? Ruinierte ich mit meiner Eitelkeit nicht meinen Lebenslauf? Beleidigte ich damit womöglich die Arbeit der übrigen Gigi-Autoren und whk-Aktivisten? Wirkte meine jahrelange Kritik am Ausbeutungscharakter dieses Systems auf die von mir vertretenen Leidtragenden nicht zu Recht unanständig, wiese ich die paralysierende Hand meines politischen Gegners jetzt nicht zurück? Wie so etwas zu Recht endete, illustrierte die Gigi-Ausgabe 23 schwerpunktmäßig. (2)

Bei Rosa Luxemburg: Kann ich, Frau Dr. Knake-Werner, aus der Hand eines in eine bürgerliche Regierung eingetretenen „sozialistischen Elements“, einer Kommunistin, dieses Bundesverdienstkreuz annehmen? Lasse ich mich als Vorbild mißbrauchen und in ihr Tun einbinden von Einrichtungen und politischen Gegnern, die ansonsten doch meine Lebensleistung und meine gesellschaftskritischen Positionen verunglimpfen? Oder will ich doch lieber loyaler Anwalt der Opfer des Kapitals bleiben? Diese „taktische Frage“ beantwortete die spätere Mitgründerin der Kommunistischen Partei Deutschlands bereits am 6. Juli 1899 in der Leipziger Volkszeitung so klar, daß ich mich strafmildernd gern darauf berufe. Andernfalls wäre ich ein nichtswürdiger Opportunist. Folglich gibt es neben den von mir dargelegten Strafaussetzungsgründen, das heißt dem konsequenten Fortsetzen meiner Arbeit für whk und Gigi, nur eine widerspruchsfreie Alternative zum angedrohten Urteil.

Erst kürzlich schrieb mir der Präsident des Landessozialgerichts für das Land Brandenburg: „Auf Vorschlag des Sozialverbandes Deutschland, Landesverband Berlin-Brandenburg, – SoVD – berufe ich Sie ... mit Wirkung vom 1. Mai 2005 für die Dauer von fünf Jahren zum ehrenamtlichen Richter für die Angelegenheiten der Sozial- und Arbeitslosenversicherung (bzw.) Grundsicherung für Arbeitsuchende aus dem Kreis der Versicherten (bzw.) Arbeitnehmer am Landessozialgericht für das Land Brandenburg.“ Ich weiß nicht, ob ich dazu konditionell noch in der Lage sein werde.

Daher bitte ich die hier Anwesenden, mit mir statt auf die nun doch nicht erfolgte Aushändigung des Bundesverdienstkreuzes jetzt besser auf meine „gemeinnützige Arbeit“ auf sozialrechtlichem Gebiet anzustoßen – praktisch als Fortsetzung meiner tätigen Reue, die ich vor mehr als vier Jahren nicht erst am Sozialgericht Potsdam begann. Parallel wird die Imbißverkostung durch Sabine Neumann vom Ausbildungs-Café Palladin und ihrem jugendlichen Serviceteam ermöglicht. Hierbei bitte ich ebenfalls um ein wohlwollendes Urteil. Dankeschön!

* Es geschah nicht.

Anmerkungen
(1) Eine bereits am 1. Juni von der Website der Landesregierung entfernte Pressemitteilung der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz vom 30. Mai, über deren Inhalt Ortwin Passon nicht informiert worden war, enthielt falsche und irreführende Angaben. Laut telefonischer Auskunft des persönlichen Referenten der Senatorin, Matthias Birkwald, hatte die Absicht, einen whk-Aktivisten für sein sexualpolitisches Engagement, darunter explizit jenes als Gigi-Redakteur, zu würdigen, auch Unmutsäußerungen aus der bürgerlichen Homosexuellenszene provoziert und zu Nachfragen der Boulevardpresse im Büro der Senatorin geführt. Passons Redakteurstätigkeit kam denn auch in der Laudatio der Senatorin nicht vor.
(2) Die Gigi-Ausgabe Nr. 23 (Januar/Februar 2003) thematisierte die Verleihung des Großen Verdienstkreuzes des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland an den emeritierten Endokrinologen Günter Dörner, ausgehändigt am 4. Oktober 2002 durch Bundespräsident Johannes Rau (SPD). Dörner ist weltweit berüchtigt durch Rattenversuche zur Änderung der sexuellen Triebrichtung und damit zur Eliminierung der Homosexualität durch Eingriffe ins Gehirn. Ungeachtet dessen nahm in derselben Zeremonie mit Volker Beck der bekannteste bürgerliche Schwulenpolitiker Deutschlands in einem Akt homosexueller Selbstverachtung ebenfalls das Bundesverdienstkreuz entgegen.