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Dolchstoß


Es war ein Skandal, wie es ihn vor und auch nach Lebzeiten Freuds nicht mehr geben sollte. Ein enger Vertrauter schrieb persönliche Erinnerungen an den Großmeister der Psychoanalyse, die ihn als zerrissenes und in persönlichen Beziehungen unfähiges Opfer seiner eigenen Triebe zu schildern schienen. Dafür wurde Isidor Sadger 1930/31 aus dem Kreis der Psychoanalytiker verstoßen und als einziges Mitglied des alten Freud-Kreises 1939 nicht ins sichere Ausland gerettet. Er starb 1942 im KZ Theresienstadt. Die Erinnerung an ihn wurde ausgelöscht, sein Name aus den Annalen der Analyse getilgt. Auch Freuds alte Rivalen sahen keinen Grund, sich für ihn zu begeistern. Schließlich war er es gewesen, der stets als erster seine Stimme gegen sie erhob, egal ob sie Jung, Adler oder Reich hießen. Spätere Freud-Schüler dürften gekränkt gewesen sein, weil Sadger ihnen nur die Rolle von Randfiguren zubilligte. Ganz eingenommen von Freud nahm er fälschlich für sich in Anspruch, ihn als normalen Menschen und Patienten sehen zu dürfen.

Doch seine „Persönlichen Erinnerungen“, als Privatdruck 1930 erschienen, überdauerten in Einzelexemplaren die Zeit. 2005 erschien ein englischer Nachdruck, 2006 das deutschsprachige Original, kommentiert von Andrea Huppke und Michael Schröter, Herausgeber von Luzifer-Amor, Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse.

Es gibt einiges darin zu entdecken. Da werden verkannte Personen aus dem Umkreis Freuds neu verortet, zum Beispiel Max Kahane. An anderer Stelle wird das Klima der Mittwochs-Gesellschaft deutlich: Freud in der Pose des typischen Wiener Kaffeehausdiktators gesehen. Sadger arbeitet aber hier Freuds Fähigkeit heraus, sich in andere Personen hineinzudenken – aber nur, solange sie ihm krank erschienen. Sadger verfügte ohnehin über eine rasche Auffassungsgabe, aber im Umkreis von Freud perfektionierte er seine Fähigkeiten, ohne jedoch seine ursprünglichen wissenschaftlichen Anschauungen ganz aufzugeben. Das zeigt sich unter anderem daran, daß er noch in den 1920er Jahren die Termini eines Krafft-Ebings vorzog, zum Beispiel „Psychopathia sexualis“. Homosexuelle glaubte Sadger noch heilen zu können, als Freud das Terrain längst verlassen hatte. In diesen Jahren trat er erstmals offen gegen Freud und seine „Konzentration auf die Endokrinologie“ auf – das war, als Freud sich hatte „steinachen“ lassen. Doch an Sadgers psychoanalytischen Fähigkeiten und der Beherrschung der Materie konnten seine Antagonisten bis zuletzt nichts aussetzen. Erst als er es wagte, in klassischer psychoanalytischer Manier Einzelaspekte zusammenzutragen und die Persönlichkeit Freuds analytisch zu deuten, da war es mit der Liebe vorbei.

Womit das eigentliche Problem angesprochen wäre: Sadger war von einer Art unerotischen hemmungslosen Liebe zu Freud erfüllt, so ähnlich wie im Mittelalter das Idealverhältnis von Minnesänger und „Hoher Frau“ angelegt war. Umso härter traf ihn der Bannstrahl des Meisters. Der einstmals so produktive Sadger verfaßte nach 1930 nur noch einen einzigen Aufsatz (1941). Er war kein Luzifer, der sich selbst an die Spitze setzen wollte, eher ein verspielter Faun, der einen Gott nackt gesehen hatte.

Florian Mildenberger