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Die lederne Wurst

„Brauchen wir wirklich ein wahres Geschlecht?“ fragte einst der Philosoph Michel Foucault und beantwortete seine Frage bereits 1978 in seinem Buch „Der Fall Barbin“ auf recht ernüchternde Weise: „Mit einer Beharrlichkeit, die an Starrsinn grenzt, haben die Gesellschaften des Abendlands dies bejaht.“ Einen lehrreichen Ausflug in die Fabelwelt der Geschlechter- und sexuell determinierten Identitäten unternahm Lizzie Pricken


War es noch bis zum Beginn der Neuzeit möglich, zumindest an der Entscheidungsfindung teilzunehmen und ab einem bestimmten Alter selbst zu wählen, sich entweder der Welt der Männer oder jener der Frauen anzuschließen, so änderte sich die Situation alsbald radikal. Denn, so Foucault: „Biologische Sexualtheorien, juristische Bestimmungen des Individuums und Formen administrativer Kontrolle haben seit dem 18. Jahrhundert in den modernen Staaten nach und nach dazu geführt, die Idee einer Vermischung der beiden Geschlechter in einem einzigen Körper abzulehnen und infolgedessen die freie Entscheidung der zweifelhaften Individuen zu beschränken. Fortan jedem ein Geschlecht und nur ein einziges. (...) Vom medizinischen Standpunkt bedeutet das, daß es im Fall eines Hermaphroditen nicht mehr darum gehen wird, die beiden nebeneinander liegenden oder vermischten Geschlechter zu erkennen, (...) sondern darum zu entziffern, welches das wahre Geschlecht ist (...). Nicht mehr das Individuum entscheidet über das Geschlecht, zu dem es in rechtlicher und sozialer Hinsicht gehören will, sondern der Experte bestimmt, welches Geschlecht die Natur für es ausgewählt hat und an welches sich zu halten die Gesellschaft darum von ihm verlangen muß.“

Präzisier läßt sich die endgültige Etablierung der normierten Heterosexualität (von hetero: ungleich, verschieden) wohl kaum auf den Punkt bringen. In seiner Studie über Herculine Barbin, die nach der Geburt 1838 als Mädchen aufwuchs und ihre Jugend auf verschiedenen Klosterschulen verbrachte, zeigt sich die ganze Tragik einer Person, die an der erzwungenen sexuellen „Identität“ zerbricht.
Dabei spielte es zunächst gar keine Rolle, daß Herculine ein eher „herber“ Frauentyp war. Nachdem sie sich in einem Mädcheninternat zur Lehrerin ausbilden ließ, begann sie bald darauf eine Liebesbeziehung mit der Tochter der Anstaltsleiterin. Nach der Entdeckung der Liaison durch einige Schülerinnen wurde eine ärztliche Untersuchung durchgeführt. Dabei stellte sich heraus, daß Herculine sowohl weibliche als auch – zumindest im Ansatz – männliche Genitalien hatte. Ihr Entschluß, fortan als Mann zu leben, erfolgte tragischerweise aus eigenem Antrieb, obwohl dies weder von den Frauen ihrer Umgebung noch vom Gesetzgeber verlangt wurde.

Doch die sozialen Regeln im damaligen Frankreich trieben Herculine zu quälenden Selbstzweifeln, denn die Gefühle, die sie für Frauen hegte, konnten nach der Logik der Zeit nur von dem „Mann“ in ihr stammen. Auf Anraten einiger „Experten“ wechselte sie den Personenstand, ohne sich in ihrer neuen Rolle orientieren zu können, und nahm sich schon bald darauf in einem Anfall von tiefem Selbsthaß das Leben.

Butch als Schicksal

Ebenfalls vom Übergang zur Neuzeit handelt das kürzlich erschienene Buch der Literaturwissenschaftlerin Angela Steidele. Ihr ist es zu verdanken, daß eines der wenigen Zeugnisse lesbischen Begehrens an der Schwelle zur Renaissance nun wieder der Öffentlichkeit zugänglich ist. Sie zeigt dies am Beispiel einer Frau, die sich bereits im Alter von fünfzehn Jahren dazu entschloß, als Mann zu leben. Besonders aufgrund des von ihr aus Geheimarchiven zusammengetragenen Materials zu dem Gerichtsverfahren gegen die Protagonistin, das schließlich zur Verurteilung wegen Sodomie führte, finden sich spannende Details zur Entwicklung der deutschen Rechts- und Sozialgesetzgebung.

Dabei wurde die Vita der Catharina Margaretha Linck alias Anastasius Lagrantinus Rosenstengel schon einmal, nämlich im Jahre 1891, von dem Nervenarzt F.C. Müller als „ein weiterer Fall conträrer Sexualempfindung“ veröffentlicht und von ihm selbst dementsprechend kommentiert. Umso wichtiger erscheint es, daß heute lesbische Geschichtsforscherinnen den Blick für die sexuelle Emanzipation schärfen, denn es ist anzunehmen, daß nicht wenige Frauen in der Vergangenheit in Männerkleidung auftraten und mitunter sogar als Soldaten ihr Brot verdienten. Steidele schreibt dazu: „Wie Beispiele anderer Frauen in Männerkleidern, die Frauen begehrten, deutlich machen, scheint es praktikabel, erfolgversprechend und im phallozentristischen Sexualverständnis der Zeit naheliegend gewesen zu sein, als lesbisch begehrende Frau in die Rolle und Kleidung eines Mannes zu schlüpfen.“ Wobei es für selbige durchaus gefährlich sein konnte, nach dem damals geltenden deutschen Recht Verbindungen mit anderen Frauen einzugehen, denn im Falle der Enttarnung drohte nicht weniger als die Todesstrafe. In deutschen Landen nämlich galt das Gesetz gegen die sogenannte „widernatürliche Unzucht“ bis Mitte des 19. Jahrhunderts auch für Lesben. Und doch war Catharina Linck/Anastasius Rosenstengel vermutlich die letzte, die als sogenannte „Sodomitin“ hingerichtet wurde.

Anhand der abenteuerlich anmutenden Biographie der aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Linck offenbart sich ein bislang unbekanntes Stück „lesbischer“ Geschichte. Linck steht dabei mitnichten alleine, sondern in einer Reihe mit diversen anderen Rebellinen, die aufgrund lesbischen Begehrens öffentlich hingerichtet wurden. So etwa Katherina Hetzeldorfer, die 1477 in Speyer ertränkt wurde, weil sie zwei Jahre lang mit einer Frau Tisch und Bett geteilt und noch mit zwei weiteren Frauen sexuell verkehrt hatte. Auch in Basel wurde 1537 eine Frau ertränkt, weil sie, als Mann verkleidet, eine andere Frau geheiratet hatte. Noch 1702 wurde Anna Ilsabe Bunck, genannt die „Jungfer Heinrich“, gemeinsam mit ihrer Ehefrau in Hamburg gerädert. Ob die Genannten wie Catharina Linck ein „Gaudemischee“ – einen Dildo – trugen, ist nicht überliefert. Doch unterscheiden sich diese Fälle laut Steidele vom Schicksal Catharina Lincks insofern, als letztere einzig und allein nach dem Sodomiegesetz verurteilt wurde. Ihr „Fall“ zeige daher das Problem in Reinform, wie die Gesetze und die Gesellschaft in der gerade begonnenen Aufklärung und damit zukünftig in der Moderne mit einer Frau umgehen sollten, die Frauen als Sexualpartnerinnen wählte.

Armut als ein Motiv

Als einen weiteren Grund zum Geschlechtswechsel gibt Steidele die grassierende Armut vieler Frauen an, „denn im Gegensatz zur Verwandlung vom Mann zur Frau bedeutet die Verwandlung von der Frau zum Mann immer sozialen Aufstieg“. Gleichwohl schlüpften selbst adelige Damen in Männerkleidung, wenn sich die Gelegenheit bot. So auch Christina, Königin von Schweden (1626-1689), die wohl berühmteste europäische Lesbe des 17. Jahrhunderts, deren Kleidung sie nicht zuletzt auf ihren vielen Reisen vor Vergewaltigung schützte. Über die genaue Anzahl von „Crossdresserinnen“ in der europäischen Geschichte läßt sich indes nur spekulieren, denn bekannt geworden sind außer gekrönten Häuptern nur jene, deren Leben vor dem Richter endete. Zum „Durchgehen“ als Mann gehörte neben dem passenden Outfit auch die Fähigkeit, im Stehen zu urinieren, wozu nicht selten das Horn eines Tieres umfunktioniert wurde. Catharina Linck war zudem sicher nicht die erste Frau, die sich einen Phallus aus Leder bastelte, der so gut gelungen sein mußte, daß er laut eigener Aussage ihren Geliebten nicht als „Surrogat“ auffiel.

Die Fortsetzung finden Sie in unserer Printausgabe.