Bereits
die bis weit in das 20. Jahrhundert hineinreichende und auch noch heute im
Strafgesetz verankerte Sittenmoral zeigte deutlich, daß Sexualmoral
nicht auf allgemein gültigen ethischen Grundsätzen beruhte, sondern
diesen geradezu diametral entgegen stand. Die legalisierte Vergewaltigung
in der Ehe, die Pönalisierung nicht-ehelichen Geschlechtsverkehrs, der
heute noch existierende berühmt-berüchtigte Kuppelparagraph oder
die Verfolgung Homosexueller sind nur einige Beispiele dafür. Ihr Zweck
bestand darin, die von einigen Wenigen definierten sittlich-moralischen Wertvorstellungen
notfalls mit Hilfe des Strafrechts aufzuzwingen. Dem wollte
die sogenannte sexuelle Revolution abhelfen. Im strafrechtlichen Bereich erreichte
sie zwar Lockerungen des Sexualstrafrechts, doch dessen angestrebte Abschaffung
blieb in weiter Ferne. Auf gesellschaftlicher Ebene trat an Stelle der Sitten-
die Konsensmoral. Erlaubt sein sollte alles, worin die beteiligten Sexualpartner
einwilligen und die Verbote unzüchtiger Sexualhandlungen sollten fallen.
Die Konsensmoral schien damit im Einklang mit der Ethik nicht-sexueller Lebensbereiche
zu sein. Dies warf jedoch ein Problem auf: Wie sollte mit Kindern verfahren
werden, die mit sexuellen Handlungen mit Erwachsenen einverstanden sind? Denn
diese wären nach der Konsensmoral zulässig.
Informed
consent
Für
dieses Problem gab es nur eine Lösung: Der kindliche Wille mußte
in Fällen einverständlicher Sexualität für irrelevant
erklärt werden. Seiner Lösung widmete 1979 der US-amerikanische
Mißbrauchsforscher David Finkelhor seinen vielzitierten Aufsatz Whats
wrong with sex between adults and children1. Er argumentierte, daß
Kinder wohl ihr Einverständnis zu sexuellen Handlungen mit Erwachsenen
in einigen Fällen geben, sie aber nicht zustimmen können, weil sie
nicht fähig seien, die Konsequenzen ihres Handelns abzuschätzen.
Sie verfügen weder über sexuelles Wissen noch über das Einschätzungsvermögen
über den Sexualpartner und kennen nicht die Reaktionen der Umwelt auf
ihr Handeln. Dieser Gedanke war nicht neu. Finkelhor übertrug das dem
Arztrecht entstammende Konzept der informierten Zustimmung (engl: informed
consent), wonach Patienten umfassend über die Risiken und Nebenwirkungen
ärztlicher Behandlungen informiert werden müssen, auf sexuelle Interaktionen
zwischen Erwachsenen und Kindern. Diese Argumentation hat sich weitgehend
durchgesetzt und bestimmt wesentlich die heutigen Anschauungen zum Umgang
mit kindlicher Sexualität. In diesem Kontext ist sein Aufsatz ein Zeitdokument.
Finkelhor
argumentierte, daß bei sexuellen Interaktionen zwischen Menschen eine
einfache Zustimmung nicht ausreichend ist, sondern daß die wesentlich
höhere ethische Anforderung der informierten Zustimmung aller Partizipanten
vorliegen muß. Dieses Argumente ist deshalb so attraktiv, weil es sich
nach allgemeinen ethischen Prinzipien, wie sie auch in nicht-sexuellen Lebensbereichen
zur Anwendung kommen, zu richten scheint und sich so dem Verdacht der Moralisierung
entziehen will. Nicht ohne diesen Hintergedanken beruft sich Finkelhor auf
das Arztrecht. Doch schon mit diesem Vergleich kehrt sich Finkelehor von allgemein
anerkannten ethischen Prinzipien ab und installiert ein Sonderrecht für
die Sexualität. Denn das Arztrecht verbietet nicht die Behandlung von
Patienten, sondern fordert deren umfassende Informierung. Analog hätte
Finkelhor die Aufklärung von Kindern fordern müssen anstatt sexuelle
Beziehungen mit ihnen moralisch zu verwerfen.
Wie wenig
die Konsensmoral sich ethisch legitimieren kann, zeigt der Vergleich zu nicht-sexuellen
Lebensbereichen. Ethisch korrektes Handeln setzt zwar in vielen Bereichen
die informierte Zustimmung aller Partizipanten voraus, Verstöße
dagegen gelten jedoch als minderschwere Verwerflichkeit. So gelten Kinder
als nicht beziehungsweise eingeschränkt geschäftsfähig, doch
geschäftliche Interaktionen mit ihnen sind lediglich rechtsunwirksam,
nicht aber ein mit langjährigen Haftstrafen belegter Straftatbestand.
Ethisch korrekt müßten sexuelle wie nicht-sexuelle Tatbestände
gleich behandelt werden: Nicht-sexuelle Handlungen ohne informierte Zustimmung
müssen so entweder mit langen Haftstrafen pönalisiert oder sexuelle
Handlungen ohne informierte Zustimmung für straffrei erklärt werden.
Obwohl beide Forderungen logisch korrekt sind, scheinen sie dem gesunden
Menschenverstand zuwider zu laufen. Dieses Unbehagen weist auf einen
tiefer liegenden Punkt in dieser Argumentation hin.
Es stellt sich die Frage, weshalb Finkelhor in sexuellen Dingen die Anforderung der informierten und nicht bloß der einfachen Zustimmung stellt.
Fortsetzung nur in unserer Printausgabe