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Das impotente Kind


In den sexuell permissiven Gesellschaften des westlichen Kulturkreises ist die Sexualmoral ein Regelwerk zur Verhinderung des Auslebens menschlicher Sexualität. Der Begriff „Moral“ suggeriert dabei die Legitimation durch allgemeingültige ethische Grundsätze. Daß Sexualmoral mit Ethik wenig gemein hat, meint Sebastian Anders

Bereits die bis weit in das 20. Jahrhundert hineinreichende und auch noch heute im Strafgesetz verankerte Sittenmoral zeigte deutlich, daß Sexualmoral nicht auf allgemein gültigen ethischen Grundsätzen beruhte, sondern diesen geradezu diametral entgegen stand. Die legalisierte Vergewaltigung in der Ehe, die Pönalisierung nicht-ehelichen Geschlechtsverkehrs, der heute noch existierende berühmt-berüchtigte Kuppelparagraph oder die Verfolgung Homosexueller sind nur einige Beispiele dafür. Ihr Zweck bestand darin, die von einigen Wenigen definierten sittlich-moralischen Wertvorstellungen – notfalls mit Hilfe des Strafrechts – aufzuzwingen. Dem wollte die sogenannte sexuelle Revolution abhelfen. Im strafrechtlichen Bereich erreichte sie zwar Lockerungen des Sexualstrafrechts, doch dessen angestrebte Abschaffung blieb in weiter Ferne. Auf gesellschaftlicher Ebene trat an Stelle der Sitten- die Konsensmoral. Erlaubt sein sollte alles, worin die beteiligten Sexualpartner einwilligen und die Verbote unzüchtiger Sexualhandlungen sollten fallen. Die Konsensmoral schien damit im Einklang mit der Ethik nicht-sexueller Lebensbereiche zu sein. Dies warf jedoch ein Problem auf: Wie sollte mit Kindern verfahren werden, die mit sexuellen Handlungen mit Erwachsenen einverstanden sind? Denn diese wären nach der Konsensmoral zulässig.

Informed consent

Für dieses Problem gab es nur eine Lösung: Der kindliche Wille mußte in Fällen einverständlicher Sexualität für irrelevant erklärt werden. Seiner Lösung widmete 1979 der US-amerikanische Mißbrauchsforscher David Finkelhor seinen vielzitierten Aufsatz „What’s wrong with sex between adults and children“1. Er argumentierte, daß Kinder wohl ihr Einverständnis zu sexuellen Handlungen mit Erwachsenen in einigen Fällen geben, sie aber nicht zustimmen können, weil sie nicht fähig seien, die Konsequenzen ihres Handelns abzuschätzen. Sie verfügen weder über sexuelles Wissen noch über das Einschätzungsvermögen über den Sexualpartner und kennen nicht die Reaktionen der Umwelt auf ihr Handeln. Dieser Gedanke war nicht neu. Finkelhor übertrug das dem Arztrecht entstammende Konzept der informierten Zustimmung (engl: informed consent), wonach Patienten umfassend über die Risiken und Nebenwirkungen ärztlicher Behandlungen informiert werden müssen, auf sexuelle Interaktionen zwischen Erwachsenen und Kindern. Diese Argumentation hat sich weitgehend durchgesetzt und bestimmt wesentlich die heutigen Anschauungen zum Umgang mit kindlicher Sexualität. In diesem Kontext ist sein Aufsatz ein Zeitdokument.

Finkelhor argumentierte, daß bei sexuellen Interaktionen zwischen Menschen eine einfache Zustimmung nicht ausreichend ist, sondern daß die wesentlich höhere ethische Anforderung der informierten Zustimmung aller Partizipanten vorliegen muß. Dieses Argumente ist deshalb so attraktiv, weil es sich nach allgemeinen ethischen Prinzipien, wie sie auch in nicht-sexuellen Lebensbereichen zur Anwendung kommen, zu richten scheint und sich so dem Verdacht der Moralisierung entziehen will. Nicht ohne diesen Hintergedanken beruft sich Finkelhor auf das Arztrecht. Doch schon mit diesem Vergleich kehrt sich Finkelehor von allgemein anerkannten ethischen Prinzipien ab und installiert ein Sonderrecht für die Sexualität. Denn das Arztrecht verbietet nicht die Behandlung von Patienten, sondern fordert deren umfassende Informierung. Analog hätte Finkelhor die Aufklärung von Kindern fordern müssen anstatt sexuelle Beziehungen mit ihnen moralisch zu verwerfen.

Wie wenig die Konsensmoral sich ethisch legitimieren kann, zeigt der Vergleich zu nicht-sexuellen Lebensbereichen. Ethisch korrektes Handeln setzt zwar in vielen Bereichen die informierte Zustimmung aller Partizipanten voraus, Verstöße dagegen gelten jedoch als minderschwere Verwerflichkeit. So gelten Kinder als nicht beziehungsweise eingeschränkt geschäftsfähig, doch geschäftliche Interaktionen mit ihnen sind lediglich rechtsunwirksam, nicht aber ein mit langjährigen Haftstrafen belegter Straftatbestand. Ethisch korrekt müßten sexuelle wie nicht-sexuelle Tatbestände gleich behandelt werden: Nicht-sexuelle Handlungen ohne informierte Zustimmung müssen so entweder mit langen Haftstrafen pönalisiert oder sexuelle Handlungen ohne informierte Zustimmung für straffrei erklärt werden. Obwohl beide Forderungen logisch korrekt sind, scheinen sie dem „gesunden Menschenverstand“ zuwider zu laufen. Dieses Unbehagen weist auf einen tiefer liegenden Punkt in dieser Argumentation hin.

Es stellt sich die Frage, weshalb Finkelhor in sexuellen Dingen die Anforderung der informierten und nicht bloß der einfachen Zustimmung stellt.

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