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Eine Autorin für die Couch

Über die kritische Analyse des Traumes hoffte Sigmund Freud, die Leiden von Patienten lindern und die Ursache psychosomatischer Erkrankungen finden zu können. Heutige Forscher glauben jedoch bisweilen, mittels Träumens anstelle wissenschaftlicher Forschung dem Phänomen Freud näherzukommen. Zu ihnen zählt auch Annette Meyhöfer, meint Florian Mildenberger

Viel wurde insbesondere 2005 über Freud geschrieben, 100 Jahre „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ mußten gebührend gefeiert werden. Nur eine neue Freud-Biographie erschien der Fachwissenschaft unnötig. Wozu auch? Das, was man dank Archivquellen wissen konnte, war schon ausgewalzt, nur kleinere Details waren noch zu klären. Das Dauerärgernis gesperrter Korrespondenzen und scheinbar verlorengegangener Akten ließ sich dank des Desinteresses der Freud-Erben auch im Jubiläumsjahr nicht lösen. Allenfalls eine erschöpfende Zusammenfassung der Diskurse um, gegen, für und über Freud war ein Desiderat der Forschung. Das bleibt es auch weiterhin, denn mehr als ein blankgewienertes historisches Lesebuch ist bei der Biographie Annette Meyhöfers mit dem Titel „Eine Wissenschaft des Träumens“ nicht herausgekommen(1) .

Trotz jahrelanger Erfahrung mit betriebsblinden Wissenschaftlern hat es auch mich erstaunt, wie man am Diskurs der vergangenen zwanzig Jahre vorbeischreiben kann. Die Autorin scheint tatsächlich zu glauben, man könne eine Biographie ohne Rücksicht auf Schulenstreit und andauernde Debatten verfassen. Weder die Studien von Masson(2) noch die der Gender-Forschung oder doch wenigstens die kleine kritische Arbeit von Selg fanden Erwähnung(3). Es gibt nach Frau Meyhöfers Ansicht eben nur Frau Meyhöfer als ernstzunehmende Forscherin auf dem Gebiet des Lebens Sigmund Freuds. Und da hat es einiges gegeben, was nach Ansicht der Autorin unbedingt in den Vordergrund gerückt gehört. So, daß Freud ein Bummelstudent war, Hühnerfleisch verabscheute und kein Blut sehen konnte. Angesichts dieser herausragenden Erkenntnisse kann man natürlich darüber hinwegsehen, daß derartige Banalitäten wie Originalquellen, kritische Einschätzungen moderner Forscher oder Freuds Annäherungen an die Eugenik gänzlich fehlen. Auch die Haltung des Protagonisten zur „arischen Seelenheilkunde“ nach 1933 ist – freundlich formuliert – nicht auf dem neuesten Stand der Erkenntnis abgefaßt. Schließlich scheut sich die Autorin auch nicht, bei tagespolitischen Debatten im Österreich der Zwischenkriegszeit noch nachträglich eindeutig Position zu beziehen und sich einer Geschichtsklitterung zugunsten der Sozialdemokratie zu bedienen, die heute sogar den SPÖ-Historikern peinlich ist. Natürlich fehlt auch jeder Hinweis auf sexualpolitische Debatten in Leben und Werk Sigmund Freuds, die heute eventuell für Aufregung sorgen könnten: Pädophilie? – Gab es damals wohl noch nicht. Freuds Frauenbild wird als vorbildlich liberal dargestellt, was den Verdacht nährt, die Autorin habe nicht nur sämtliche feministischen Debatten der letzten dreißig Jahre verschlafen, sondern auch die Ausführungen Freuds nie im Original gelesen. Und beim Komplex der Homosexualität drückt sich Meyhöfer um jede Eindeutigkeit herum, sei es hinsichtlich der Veranlagung Daniel Paul Schrebers oder der sexuellen Interessen von Anna Freud(4) . Es sollte eben ein historisches Lesebuch ohne Ecken und Kanten werden, eine dicke Lektüre, die man der grenzalzheimernden Oma ebenso schenken kann wie dem pubertierenden, an Freud interessierten Gymnasiasten.

Das ist der Autorin gelungen. Für all jene aber, die sich tatsächlich kritisch mit Psychoanalyse, Sigmund Freud, seinem Umfeld, den Antagonisten und Freunden auseinandersetzen wollen kann von diesem Machwerk nur abgeraten werden. Als Überblicksdarstellung ist das Buch sicher nicht schlecht, aber dafür hätte man nicht 797 Seiten füllen müssen um sich dann beim Register auf Personen zu beschränken, wenn es im ganzen Buch gerade eben nicht vorrangig um Personen, sondern Lehrmeinungen geht. Vielleicht ist es aber auch kein Zufall, dass man beim Blick ins Register so unbedeutende Termini wie „Psychologie“ oder „Psychoanalyse“ vergeblich sucht. Andererseits wären im Fall eines Sachregisters wohl auch „Hühnerfleisch“ oder „Schnitzel“ bedacht worden. Verzicht auf Forscherfleiß kann im Einzelfall sogar wohltuend sein.

1) Meyhöfer, Annette: Eine Wissenschaft des Träumens. Sigmund Freud und seine Zeit. Knaus Verlag, München 2006, 798 Seiten, 24,95 Euro
2) Masson, Jeffrey M.: Was hat man dir, du armes Kind, getan? Sigmund Freuds Unterdrückung der Verführungstheorie. Rowohlt Verlag, Reinbek1984
3) Selg, Herbert: Sigmund Freud – Genie oder Scharlatan? Eine kritische Einführung in Leben und Werk. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 2002
4) Siehe hierzu Gudrun Hauer: Frau mit Frau. Anmerkungen zum „lesbischen Tabu“ in der Psychoanalyse anhand der Biographie Anna Freuds. In: Gigi Nr. 43, 2006, 8-11