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Braune Ejakulationen


Camille Spiess hat keine nachhaltigen Spuren in der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts hinterlassen. Als Zoologe hat er Blutegel untersucht, als selbsternannter Nachfolger Nietzsches viele Fragen seiner Zeit behandelt – Imperialismus ebenso wie Homosexualität. 1938 hat er sich auf eine sehr persönliche Weise den Nationalsozialisten angedient, entdeckte Wolfram Setz

Am 26. Februar 1910 hielt Magnus Hirschfeld in Paris einen Vortrag über „Die Anomalien des Geschlechtstriebes mit besonderer Berücksichtigung der homosexuellen Frage“. An der „sehr angeregten Diskussion“ danach beteiligte sich auch der damals 32jährige „Dr. Camille Spiess“.(1) Das ist die einzige Spur, die Camille Spiess im Zusammenhang mit Hirschfeld und der Arbeit des Wissenschaftlich-humanitären Komitees hinterlassen hat. Etwas mehr erfährt man über ihn, wenn man sich an einen weiteren Teilnehmer der Diskussionsrunde hält: Jacques d’Adelswärd-Fersen. Der französische Dichter, der wegen eines Skandals Paris Ende 1903 verlassen hatte und nach Capri gegangen war, wollte 1909 durch die Gründung einer neuen Zeitschrift Akademos in Paris wieder Fuß fassen, mußte das Projekt aber Ende 1909 aufgegeben. Die Zeitschrift rechnete Camille Spiess stets zu ihren Mitarbeitern, auch wenn kein Beitrag von ihm erschienen ist. Der Kontakt zwischen Fersen und Spiess muß recht eng gewesen sein, denn in Fersens ebenfalls 1909 erschienenem Roman „Et le Feu s’éteignit sur la Mer ...“ („Und das Licht erlosch über dem Meer ...“) erscheint Camille Spiess in einer Nebenrolle als Cyrille Miess. Das literarische Porträt hat Spiess als sehr schmeichelhaft empfunden, zitiert er es doch ausführlich in seiner Autobiographie, die er 1938 unter dem Titel „Mon Autopsie. Ejaculations autobiographiques“ in Nizza veröffentlichte. Darin hat er Passagen, die im Roman sehr weit auseinander stehen, zu einem geschlossenen Porträt verknüpft.(2) In einer Anmerkung zitiert er zusätzlich aus einem Brief Fersens, in dem dieser ihm bescheinigte, überaus begabt („supérieurement doué“) zu sein. Offensichtlich ergänzt hat er in dem Zitat zwei Hinweise auf seine Forschungen, vor allem auf seine Studien über das Verdauungssystem des Blutegels („le fameux auteur du traité sur la digestion des sangsues“), mit denen er 1903 den Doktortitel erworben hatte. Interessanter ist eine Auslassung: Bei Fersen wird Miess in einem Wortspiel als amüsanter „averti et inverti“, als witziger Schwuler also, bezeichnet. Das „inverti“ fällt in dem Zitat drei Pünktchen zum Opfer ...

1938 war aus dem Zoologen längst ein selbsternannter Kulturphilosoph geworden. Es ist nicht leicht, sich über die große Zahl seiner Veröffentlichungen einen Überblick zu verschaffen, von denen in deutschen Bibliotheken nur wenige erreichbar sind, aber zum Glück zitiert er sich gern selbst. Im Bereich Sexualität schrieb er allgemein über die Entstehung der Geschlechter und ihren geheimen Zusammenhang, über Androgynie und über Homosexualität.(3) Dem Zeitgeist zollte er Tribut mit Studien zu Gobineau und zum Imperialismus. In seiner Autobiographie verweist er auf einen Aufsatz, der ihn als „Philosophen des Imperialismus“ feiert. Sein philosophisches Vorbild ist Nietzsche, später entdeckte er auch Max Stirner, den Philosophen des individualistischen Anarchismus, sah in Stirner einen Vorläufer („précurseur“) Nietzsches und sich selbst als deren beider Vollender. In einer 1949 erschienenen Broschüre über Max Stirner konstruiert er einen Dreierschritt mit Nietzsches Willen zur Macht („Volonté de Puissance“) in der Mitte, Stirners „Volonté de Jouissance“ (etwa: Wille zum Recht auf sich selbst) als Vorläufer und seiner eigenen „Volonté de Continence“ (etwa: Wille zur Selbstbeschränkung) als Vollendung.

Sein eigenes Gedankengebäude, den „Spiessismus“, bezeichnet er als „Psycho-Synthese“, sein letztes bibliographisch nachweisbares Werk trägt denn auch den Titel „Ma vie et la psycho-synthèse“ (Lausanne 1950). Davon ist auch viel in der Autobiographie von 1938 die Rede, die so etwas wie der Beitrag eines Homosexuellen zum „Geist der Zeiten“ ist. Im Text wird immer wieder Adolf Hitler gefeiert: Zu diesem „Giganten“ („le fait Hitler, qui est gigantesque“) will er ein „gigantisches“ Gedankengebäude liefern, das er als europäisch und damit als der Liebe, dem Leben und dem Frieden verpflichtet versteht („une pensée gigantesque qui est le fait européen ou humain de l’amour, de la vie et de la paix“, S. 220). Dazu paßt, daß das in der Bayerischen Staatsbibliothek in München verwahrte Exemplar folgende handschriftliche Widmung aufweist, formuliert in Nizza am 8. September 1938: „A monsieur Alfred Rosenberg, ce livre qui justifie mon oeuvre par ma vie et qui est une solution vieux du probleme juif, hommage de C. Spiess.“

Bemerkenswert ist die enge Verknüpfung des eigenen „Werks“, sprich seiner vielen Schriften, mit der eigenen Biographie, und der Anspruch, damit einen Beitrag zur „Lösung der Judenfrage“ liefern zu können. Alfred Rosenberg, der Chefideologe der Nationalsozialisten, wird im Buch selbst nur einmal mit seinem „Mythus des XX. Jahrhunderts“ genannt, so daß die besondere Herzlichkeit der Widmung erstaunen muß. Da wüßte man zu gern, ob die beiden sich vielleicht begegnet sind, als Rosenberg, 15 Jahre jünger als Spiess, sich im April 1914 einige Zeit in Paris aufhielt.(4)

Was Spiess und Hitler verbindet, sind Rassenideologie und Antisemitismus. Das sind keine Gedanken, die Spiess erst nach 1933 formuliert hätte, sie sind schon vorformuliert etwa in einer Broschüre von 1919 („Nietzsche contre la Barbarie allemande“). Schon dort wird das Dionysische bei Nietzsche mit dem Arischen (und hier ausdrücklich auch mit dem „Urnischen“) gleichgesetzt (S. 9), schon da liest man, daß Blut und Rasse mehr bedeuten als das bloße Leben („sa vie physiologique“) des Einzelnen. Um seiner durch Rasse und Blut vorgegebenen Bestimmung gerecht zu werden, muß der Einzelne so etwas wie eine Wiedergeburt erleben, die Spiess in der Phase der erwachenden Sexualität ansiedelt. Nach dem Vorbild der antiken Päderastie bedarf die Jugend daher eines „erzieherischen Eros“ („l’amour éducateur“), wie er in seiner Autobiographie am Beispiel seiner eigenen Lebensgeschichte darlegt. Diese Wiedergeburt, die zu einer sublimierten Form von Sexualität führen soll (bei der dann eine homosexuelle Orientierung keine Rolle mehr spielt), ist für ihn nur im Zusammenhang mit der nordischen Rasse denkbar, denn „der Jude“ ist für Spiess das absolut negative Gegenbild – kein Mensch, sondern ein Verräter, dessen Religion er mit „moralischem Selbstmord“ gleichsetzt („le Juif ... n’est pas un homme mais un traître dont la religion est un suicide moral“, S. 46). Mit seinem „ethnischen Antisemitismus“ stellt er sich gerne an die Seite Hitlers mit seinem „politischen Antisemitismus“.

Anmerkungen/Quellen
1) Vierteljahrsberichte des Wissenschaftlich-humanitären Komitees 1 (Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 10) (1909/10) S. 342.
2) Camille Spiess: Mon Autopsie. Ejaculations autobiographiques (Nice 1938) S. 110–112; Jacques d’Adelswärd-Fersen: Et le Feu s’éteignit sur la Mer ... (Paris 1909) S. 35–36 und 208–209.
3) La Génese des Sexes et leur synthese occulte (1930); Le Sexe androgyne ou divin (1926); L’Inversion sexuelle (1930).
4) Vgl. Ernst Piper, Alfred Rosenberg (München 2005).