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Blutgruppen-Forschung

Wenn es beim Schwulen Überfalltelefon in Köln klingelt, müssen es nicht unbedingt Opfer sein, die einen Übergriff melden. Es könnten auch wieder die Polizeibeamten Tsan-garakis oder Ebbinghaus sein, um ein bißchen über dienstliche Angelegenheiten aus Alltag der Ermittler zu plaudern. Daß sie damit die Kölner Statistik des vergangenen Jahres gerade noch so vor dem Abrutschen unter die Zehn-Fälle-Grenze retteten, ermittelte im Jahresreport 2008 des LSVD-Antigewaltprojekts Dirk Ruder

Irgendwie hat man es ja geahnt: „Anti-Gewalt-Arbeit und ein Jahresbericht eines Schwulen Überfalltelefons sind eingebunden in die aktuelle politische und mediale Gesellschaftswirklichkeit.“ So steht es in dem im Mai dieses Jahres vorgelegten Anti-Gewalt-Bericht 2008 des beim Lesben- und Schwulenverband (LSVD) in Köln angesiedelten Schwulen Überfalltelefons, und die Feststellung gehört definitiv noch zu den aufregendsten Erkenntnissen in dem 24seitigen Bericht.

Mit der politischen Gesellschaftswirklichkeit ist das bekanntlich so eine Sache: Immer, wenn sich die Demokratie regt, könnte das bedeuten, daß die Parteien gewissen Homoprojekten, deren tatsächlicher Nutzen von diesen nicht hinreichend dargelegt werden kann, möglicherweise den Geldhahn zudrehen. Da ist beim Schwulen Überfalltelefon Köln 19228 – so der vollständige Projektname, in den praktischerweise die dazugehörige Notrufnummer eingearbeitet ist – regelmäßig Panik angesagt. Das aus Landesmitteln finanzierte Projekt muß immerhin noch eine LSVD-Geschäftsstelle mit durchbringen, da schmerzt jeder Cent, den der Staat künftig verweigern könnte.

Entsprechend sorgenvoll heißt es in dem vom LSVD-Kader Frank G. Pohl verfaßten Bericht im Hinblick auf die nordrhein-westfälische Kommunalwahl am 30. August 2009: „Es ist zu erwarten, daß die rechtsradikale Partei ‘Pro Köln’ wieder mit Fraktionsstatus in den Kölner Stadtrat einzieht – so wie auch im Jahr 2004, wo sie umgehend den Stopp der Förderung lesbisch-schwuler Projekte und ein Ende des CSD verlangte. Gerade sie wollen Homosexuelle ins angeblich ‘Private’ verdrängen, d. h. Lesben und Schwule sollen aus der Öffentlichkeit verschwinden, so wie es insgeheim auch diejenige Täterklientel in diesem Bericht wünscht, die aus Ablehnung oder Haß handelt. Dennoch werden sicher mehrheitlich Parteien die Kölner Lokalpolitik bestimmen, die keine Homophobie unterstützen. Inwiefern daraus handelnde Politik entsteht, bleibt abzuwarten.“ (S. 23)

Das Kölner Überfalltelefon will, „wenn der (allerdings dauerhaft kleine – D.R.) Mitarbeiterstamm unverändert bleibt“, seine Telefon-Beratungen „sicherstellen“ und „so weit wie möglich aufrecht erhalten, selbst aber nicht wieder Präventionsarbeit und sozialpolitische Arbeit leisten können. Dazu bedürfte es größerer finanzieller Mittel.“ Montags von 19 bis 21 Uhr Telefonberatung und sonst nichts – das klingt nicht nach einem sehr lebendigen Projekt.

Wenn dann noch dauernd das Notfalltelefon still steht, kommt wenig Freude auf. Um es kurz zu machen: Der Kölner Jahresbericht umfaßt einen „Datenumfang von 27 dokumentierten Fällen“ (S. 15). Es sei zu sagen, daß „auch im Jahr 2008 nicht von einer statistischen Relevanz gesprochen werden kann“. Brav! Die dennoch recht hohe Zahl kommt zum einen dadurch zustande, daß das Projekt nach wie vor antischwule Übergriffe in ganz Deutschland zählt, nicht nur in der Domstadt. Als Tatorte tauchen in der Statistik auf: Berlin (ein Fall), die drei Ruhrgebietsstädte Essen, Herne und Castrop-Rauxel (je ein Fall), sowie Köln mit 21 Fällen. Zwei weitere Tatorte werden nicht konkret genannt. Für das Überfalltelefon setzt sich damit „der Trend des letzten Jahres mit einem sehr stark lokalen Schwerpunkt“ (S. 20) fort.
Da klingt grundlose Dramatik an, denn allein für die Stadt Köln hat sich demnach die Fallzahl von 32 im Berichtsjahr 2007 auf 21 im Berichtsjahr 2008 verringert, gut ein Drittel weniger also. Bei der Gesamtzahl aller dem Antigewaltprojekt gemeldeten Fälle ist der Rückgang noch deutlicher. Den 27 Fällen im Berichtsjahr stehen 65 Meldungen des Berichtsjahres 2007 gegenüber. Während das Überfalltelefon bei jeder noch so leichten Zunahme der Fallzahlen für gewöhnlich sämtliche Sirenen einschalten würde, will das Projekt die Abnahme der Fallmeldungen um immerhin fast sechzig Prozent von einem aufs andere Jahr als eine Art normalen saisonalen Ausrutscher in der Statistik interpretiert wissen. „Die Zahl der Fälle nahm im Vergleich zu 2007 zwar um rund die Hälfte ab, aber dies ist noch nicht als Trend einzustufen, weil diese Schwankungen seit Gründung des Schwulen Überfalltelefons 19228 immer wieder vorkamen.“ (S. 15f) Wie gern hätte man doch gelesen, die niedrigen Fallmeldungen seien Ergebnis erfolgreicher Präventionsarbeit – aber für die hatte das Projekt ja kein Geld.

Bei den Gewaltformen stehen Beleidigung und „mündliche Bedrohung“ an erster Stelle, gefolgt von leichter Körperverletzung (8) und Diebstahl (4). Schwere Körperverletzung und „Psychoterror/Mobbing“ bilden mit jeweils drei Fällen das Mittelfeld, gefolgt von Vergewaltigung (2) sowie Erpressung, Freiheitsberaubung und sexueller Nötigung (je ein Fall). Tötungsdelikte gab es indessen auch im Berichtsjahr 2008 zum Glück keine zu beklagen. Orte antischwuler Gewalt sind in erster Linie die allgemeine Öffentlichkeit (9 Fälle), gefolgt von der Wohnung des Opfers (8). In öffentlichen Verkehrsmitteln und schwulen Bars oder Discos ereigneten sich jeweils zwei Fälle. Je einen Fall verzeichnet die Statistik in einer nicht-schwulen Bar oder Disco sowie auf einem „Parkplatz/Raststätte“.

Genau die Hälfte von insgesamt vierzig Kontakten (nicht Fällen!) zum Überfalltelefon kamen elektronisch zustande: Zwanzig Mal erhielt das Projekt eine E-Mail (davon zwei Mal über die Homepage). Auf dem Anrufbeantworter hinterließen sechs Menschen eine Meldung. Während der wöchentlichen Beratungszeiten im gesamten Berichtsjahr 2008 klingelte laut Bericht nur ganze zwei (!) Mal das Telefon – über abendliche Lärmbelästigung dürfte in den Büroräumen folglich keiner der ehrenamtlichen Mitarbeiter ernsthaft geklagt haben.

Aufschlußreich ist, daß nur zehn Opfer selbst als Meldeperson auftraten. In zwei Fällen tat dies ein Bekannter oder eine Bekannte, in einem Fall meldete ihn eine nicht näher bezeichnete „Institution“. Daß der Bericht nicht wenigstens die Art der Institution angegeben hat, stellt ein echtes Versäumnis dar. Wenn beispielsweise eine bestimmte Schule oder eine Ausbildungsstätte einen Übergriff durch eine Lehrerin oder einen Lehrer gemeldet hätte, wäre dies zum einen ein Ausdruck erfolgreicher Arbeit, zum anderen Ansatzpunkt für weitere gezielte Präventionsmaßnahmen in dieser Einrichtung. Jedoch gilt vermutlich auch hier: „Dazu bedürfte es größerer finanzieller Mittel.“

In der Tabelle zu den Meldepersonen findet sich noch eine Besonderheit: Knapp mehr als die Hälfte der Meldungen, 14 der insgesamt 27 Fälle, wurden dem Antigewaltprojekt direkt von der Polizei gemeldet. Damit haben „die durch die Polizei gemeldeten Gewaltfälle erstmals die anderen Meldungen übertroffen“, merkt der Bericht lakonisch an, als sei es die reinste Normalität, wenn Kriminalbeamte – vielleicht sogar ohne Wissen der betreffenden Personen? – Ermittlungserkenntnisse an ehrenamtliche Beratungsstellen weitergeben, deren Infrastruktur kaum die Sicherheit der Weitergegebenen Daten gewährleisten dürfte. Auf die Brisanz wurde in dieser Zeitschrift schon bei der Analyse des Jahresberichts 2007 hingewiesen (vgl. „Deutsche rechts oben“ in Gigi Nr. 57 vom September/Oktober 2008), aber wie es scheint, wird die fragwürdige Informationspraxis ungerührt weitergeführt. Der aktuelle Bericht nennt sogar die Namen der dafür offenbar verantwortlichen Beamten: „Für die seit 2007 stark verbesserte Zusammenarbeit mit den beiden Kommissaren Tsangarakis und Ebbinghaus möchten wir uns an dieser Stelle herzlich bedanken.“ (S. 18) Kann sein, daß dem Dank demnächst eine dienstliche Abmahnung folgt, zumal die Beamten, wie im Bericht ausdrücklich erwähnt, Informationen über die Täter ans Überfalltelefon weitergaben. „Angaben zur Nationalität der Täter stammen von den Meldepersonen (d. h. laut Statistik überwiegend von der Polizei – D.R.) bzw. der Polizei (also nochmal Polizei – D.R.), haben bei den vorliegenden Zahlen aber keine Aussagekraft.“ (S. 21) Wenn diese Zahlen keine Aussagekraft haben: Warum läßt das LSVD-Antigewaltprojekt sie dann nicht endlich weg?

Aber nein, auch in diesem Jahr wird wieder eifrig Blutgruppen-Forschung betrieben und in ein Tortendiagramm gepackt, was dann so aussieht: Deutsche Täter (8), „südländisch“ (2), „slawisch“ (2), „sonstiges“ (7), „keine Angabe“ (8). Das ergibt ein (nach wie vor vermutetes!) Verhältnis „deutsch“ zu „nicht-deutsch“ von 8:11. Somit sind „nicht-deutsche“ Täter durch bloßes Orakeln erneut in der Überzahl und die Ehre der Volksdeutschen ist vom Antigewaltprojekt des Schwulenverbandes in Deutschland wieder einmal aufs deutscheste gerettet.

Apropos: Es handelt sich um den gleichen Verband, der schon mal vor Moscheen gegen Homophobie protestiert, wie erst im Juni in Berlin, aber den Papst beim Besuch in Köln freundlich winkend mit Fähnchen begrüßt. Fairerweise muß angemerkt werden, daß die katholische Kirche im Jahresreport 2008 immerhin in der Einleitung mit mildem Tadel bedacht wird. „Während das Verhältnis der meisten evangelischen Kirchen in Deutschland zu Homosexuellen unverkrampft, häufig auch freundschaftlich-offen ist, bietet die römisch katholische Kirche regelmäßig einen problematischen argumentativen Rahmen, um gegen Homosexuelle zu argumentieren.“ (S  4) Eigentlich jedoch könnte es dem Schwulen Überfalltelefon völlig egal sein, ob die Katholen mit problematischem Rahmen argumentieren – solange sie dabei keine Homosexuellen unfreiwillig ans Kreuz nageln, ist das kein Fall für ein Überfalltelefon.

Im Jahresbericht 2007 hieß die Täter-Kategorie „Sonstiges“ übrigens noch „Gemischt“. Aus der kommentarlosen Änderung läßt sich ersehen, daß das Kölner Überfalltelefon die Analysen seiner Jahresreports in Gigi aufmerksam studiert. Allerdings ist dem Projekt auch die Änderung des Namens für die Kategorie – bei der ohnehin unklar ist, wofür sie steht – gründlich mißlungen. „Sonstiges“ ist sächlich und steht im Zusammenhang mit Nationalitäten ausnahmslos für abwertende Formulierungen wie „sonstiges Volk“, „sonstiges Gesindel“, „sonstiges Pack“. „Sonstige“, ohne S am Ende, wäre an der fragwürdigen Auflistung zumindest grammatikalisch korrekt („sonstige Nationalität der Täter“). Neutraler klänge eine Formulierung, auf die das Schwule Überfalltelefon bislang noch nicht gekommen ist: „andere Nationalitäten“ respektive „Ethnien“. Wer aber Täter im Nazi-Jargon ungerührt in Gruppen wie „südländisch“ und „slawisch“ einteilt, dürfte für derlei Hinweise eher unempfänglich sein. Daß das Kölner Antigewaltprojekt am Schluß seines Reports erneut betont, „die Schaffung einer professionellen bundesweiten Stelle zur Dokumentation antihomosexueller Gewalt“ sei „unumgänglich“ (S. 23), bekommt vor diesem Hintergrund aber wenigstens eine gewisse Berechtigung.

Drei Fallbeispiele auf weniger als einer Din- A4-Seite runden den Kölner Bericht ab: Raub mit K.O.-Tropfen, Überfall am Baggersee und ein Überfall in einem öffentlichen Verkehrsmittel. Viel länger als das ist die zehn Seiten umfassende Einleitung. Für den 24seitigen Bericht schon etwas zu üppig geraten, dokumentiert die Sammlung von unsortiert aus dem Internet einkopierten Berichten über Homosexuelles aus aller Welt den Geist des gesamten Antigewaltproekts mehr als treffend: eine seltene Mischung aus Wahl- und Hilflosigkeit.